Mehr gesellschaftliche Relevanz: Intendant Christoph Müller hat für seine letzte Ausgabe des Gstaad Menuhin Festivals das Thema „Migration“ gewählt
Balkanroute – das klingt nach Massenflucht und Leid, nach Schleppern und der Angst vor unkontrollierter Einwanderung. „Balkanroute“ heißt auch
Balkanroute – das klingt nach Massenflucht und Leid, nach Schleppern und der Angst vor unkontrollierter Einwanderung. „Balkanroute“ heißt auch das Konzertprogramm, das Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und Gastmusikerinnen und -musikern aus dem Balkan beim Gstaad Menuhin Festival in der ausverkauften Kirche Saanen präsentiert und damit für Begeisterung sorgt. Hier wird die Balkanroute zur spannenden, sinnlichen musikalischen Entdeckungsreise und erzählt von den Menschen, die dort leben. Der Konzerttitel passt nicht nur gut zum Thema Migration, das Intendant Christoph Müller für seine letzte Festivalausgabe gewählt hat. Er spielt auch mit den Erwartungen des Publikums und gibt Denkanstöße. Genau dieses Mehr an gesellschaftlicher Relevanz möchte Müller erreichen.
Dabei ist der Weltmusik-Abend ganz unpolitisch. Keine Statements, kein Aktivismus. Die Lieder erzählen von Sehnsucht und Liebe, Trauer und Tod. Und versprühen auch unbändige Lebensfreude wie im Romalied „Dumbala Dumba“, das Luciana Mancini mit kehliger Stimme und geschmeidigem Hüftschwung, angeheizt vom sensationellen Akkordeonisten Petar Ralchev und den kreativen Percussionisten David Mayoral und Tobias Steinberger, zu einer Party werden lässt. Die Westbalkanroute führt über Griechenland, dem getragenen „Are mou Rindineddha“ (Wer weiß, kleine Schwalbe), Mazedonien („So maki sum se rodila“/Mit Schmerzen wurde ich geboren) und Serbien („Gusta noćna tmina“/Tiefe dunkle Nacht) nach Kroatien, das mit dem von Céline Scheen und Vincenzo Capezzuto innig vorgetragenen geistlichen Gesang „Panis Angelicum“ (Engelsbrot) aus dem 17. Jahrhundert repräsentiert ist. Auf der Ostbalkanroute verzückt Peyo Peev mit seinem virtuosen Spiel auf der Gadulka, der bulgarischen Kniegeige. Auch die arabischen Instrumente Oud (Kyriakos Tapakis) und Kanun (Stefano Dorakakis) bringen neben der griechischen Lyra (Giorgos Kontoyiannis) besondere Farben in die zu weiten Teilen improvisierte Musik, die nur manchmal in den zahlreichen Soli etwas ausufert. Christina Pluhar leitet an der Theorbe mit dezentem Kopfnicken das multikulturelle Ensemble. Die insgesamt fünf Sängerinnen und Sänger (ausdrucksstark: Katerina Papadopoulo und Nataša Mirković) sorgen ebenfalls für eine große musikalische Bandbreite.
Mit Patricia Kopatchinskaja hat Müller die Konzertreihe „Music for the planet“ konzipiert, die den Klimawandel thematisiert. Bei ihrem Konzert „Beethoven im Heute“ in der Kirche Lauenen zeigt die Geigerin in den Violinsonaten Nr. 4 in a-Moll und Nr. 8 in G-Dur mit dem Pianisten Joonas Ahonen den Komponisten wirklich als Revolutionär. Die große Linie geht bei den radikalen Zuspitzungen zwar etwas verloren, aber das rasend schnell genommene Finale der G-Dur-Sonate beispielsweise erhält durch die beiden eine Radikalität, die aufhorchen lässt. Aufregend ist auch die Uraufführung von Márton Illés‘ „Én-kör V“ (Ich-Kreis V), die aberwitzige Virtuosität mit Klangexperimenten kombiniert. Die auch für das Publikum herausfordernde Komposition sorgt durchaus für Missfallen, wie man aus den Gesprächen nach dem Konzert heraushören kann. Ein kollektives Glücksgefühl herrscht dagegen nach dem Auftritt des Mandolinenstars Avi Avital mit seinem Between Worlds Ensemble, das süditalienische Musik und mit der Sängerin Alessia Tondo auch das entsprechende Temperament in die Kirche Saanen bringt. Bis auf Emanuele Barbellas Mandolinenkonzert, dem Avital Eleganz und Energie verleiht, und Igor Strawinskys „Suite italienne“ ist nur Volksmusik zu hören – von Neapel bis Apulien: lebendig, authentisch, abwechslungsreich. Auch hier gibt es viel Raum für Improvisation (Luca Tarantino: Gitarre, Percussion: Itamar Doari). Und die Tarantella wird nicht nur virtuos gespielt, sondern auch getanzt. Am Ende herrscht in der Kirche eine Stimmung wie bei einem Rockkonzert. Und man schaut in viele glückliche Gesichter.
Bild: Anastasia Kobekina in der Kirche in Saanen © Raphael Faux





