Der Herbst ist grau in Berlin: Die tunesische Schriftstellerin Najet Adouani hat ein Tagebuch über ihr Leben in Kreuzberg geschrieben
Eine Schriftstellerin sitzt in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg und schreibt Tagebuch.Das macht sie schon, seitdem sie acht Jahre alt
Eine Schriftstellerin sitzt in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg und schreibt Tagebuch.
Das macht sie schon, seitdem sie acht Jahre alt war und in Tunesien aufwuchs. In einer bürgerlichen Familie mit drei Brüdern. Schon damals war sie anders, als es ihr ihre Geschlechterrolle diktierte. Sie musste die Schläge ihres Vaters mit dem Ledergürtel ertragen, doch das hielt sie nicht davon ab, ihre Kindheit und Jugend mit Lesen zu verbringen und einen Lebensweg einzuschlagen, der sie in Konflikt mit der Staatsmacht brachte: Zweimal emigrierte Najet Adouani aus dem Land, das sie als ihre Heimat nicht mehr bezeichnet: 1983 und 2012 – nach dem sogenannten Arabischen Frühling, der ihr ein Publikationsverbot einbrachte. Über ein Stipendium in Weimar kam sie 2015 nach Berlin. Sie habe die Stadt lieben gelernt, schreibt sie – obwohl ihre zwischen dem 1. September 2022 und dem 28. Februar 2023 festgehaltenen Beobachtungen die deutsche Hauptstadt nicht von ihrer besten Seite zeigen. Wie auch: im Wrangelkiez, wo Adouani lebt, beträgt die Ausländerquote fast 60 Prozent. Obdach- und Hoffnungslose bevölkern den öffentlichen Raum, der Müll türmt sich auf den Straßen und in den Hausfluren. Alleinstehende Menschen sterben in ihren Wohnungen – und der Herbst ist grau in Berlin.
Mehr als 500 Seiten umfasst das jüngst erschienene Tagebuch der 1956 im Süden Tunesiens geborene und in La Marsa am Mittelmeer aufgewachsenen Autorin, die sich vor allem als Lyrikerin einen Namen gemacht hat. Es ist kein Journal über alltägliche Verrichtungen – das am Rande auch – , sondern ein Text, der über große Themen der Menschheit nachdenkt: Krieg und Frieden, Religion, Gott, Einsamkeit und Endlichkeit. Adouani ist keine gläubige Muslimin. Sie hat sich früh von der Religion ihrer Väter entfernt, in der sie ein Instrument zur Unterdrückung nicht nur der Frauen sieht. Als Kind mit der Erzählung vom Tod im Grab konfrontiert, kann sie wochenlang nicht schlafen. Ihre Großmutter wollte aus ihr eine Märchenprinzessin machen, ihre Mutter, der sie in Liebe verbunden war und ist, hat alles getan, um sie zu fördern.

Das alles erzählt Adouani in Rückblenden auf eine Kindheit, die sie trotz Widerständen als schön und glücklich erlebt hat. Hart im Kontrast dazu erfährt sie ihr Leben als alternde Frau in Berlin. Schonungslos betrachtet sie ihren schmerzenden Körper, mit dem sie sich durch freudlose Berliner Tage quält, umgeben von Menschen, die sich längst aufgegeben haben. In ihr regt sich zuzeiten aber immer noch die alte Kraft, ihre Kämpfernatur, die keine Angst kennt. Dann legt sie Musik auf, schenkt sich ein Glas Wein ein und feiert sich selbst. Von ihren drei Söhnen, von denen einer in Berlin lebt, hat sie offenbar nicht viel zu erwarten. Von der Politik der Herrschenden ist sie total desillusioniert. Der Blick nach Tunesien offenbart den kompletten Niedergang aller Revolutionshoffnungen – wenn es überhaupt je welche gegeben hat. Im Herbst der auslaufenden Pandemie und des sich festsetzenden russischen Kriegs gegen die Ukraine bleibt auch in Deutschland kein Raum für Zuversicht. „Cold Summer – Hot Autumn“ fängt die Erschöpfung und die Mutlosigkeit in Berlin nach zwei kurz aufeinanderfolgenden Krisen atmosphärisch ein.
Der Autorin steht dafür eine Sprache zur Verfügung, die so präzise wie poetisch ist, glasklare Diagnosen mit nächtlichen Albträumen verbindet.
Der schiere Umfang des von Christa Schuenke bravourös aus dem Englischen übersetzten Tagebuchs stellt die Leser allerdings vor eine gewisse Herausforderung. Es hat den Anschein, Najet Adouani habe sich ihr ganzes Leben, ihre ganze Wut und die ganze Verlorenheit einer Exilantin von der Seele geschrieben. Umso verdienstvoller, dass der Sujet Verlag das Buch als neuen Band seiner „Luftwurzelliteratur“ – dazu kommen in diesem Herbst Zia Qasemi: „Mitternachtssammler“ und Halim Youssef: „Liebe im Schatten der dunklen Flaggen“ – publiziert hat. Man sollte ihre Stimme lauter hören.
Najet Adouani: Cold War, Hot Autumn. Kreuzberger Tagebuch. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Sujet Verlag, Bremen 2025. 550 Seiten
Bild: Najet Adouani © Herby Sachs





