Kunst

Interpretationsspielraum: Das Bucerius Kunst Forum zeigt in Hamburg eine Retrospektive zu Sean Scully

Wenn Kathrin Baumstark, Direktorin des Bucerius Kunst Forums, über Sean Scully spricht, merkt man: Sie brennt wirklich für ihn

Interpretationsspielraum: Das Bucerius Kunst Forum zeigt in Hamburg eine Retrospektive zu Sean Scully

Wenn Kathrin Baumstark, Direktorin des Bucerius Kunst Forums, über Sean Scully spricht, merkt man: Sie brennt wirklich für ihn und seine Kunst. Zu seinem 80. Geburtstag, den der Ire, aufgewachsen im Süden Londons, kürzlich gefeiert hat, widmet die Kunsthistorikerin ihm die Retrospektive „Sean Scully. Stories“. Gezeigt werden bis zum 2. November Werke aus mehr als sechs Jahrzehnten – neben großformatigen Gemälden auch Arbeiten auf Papier, Skulpturen sowie Fotografien.
In der Eingangshalle steht der „Coin Stack“. „Ich fand es passend, diese Skulptur neben der Kasse zu platzieren“, sagt Kathrin Baumstark. Denn diese Arbeit geht zurück auf ein Ritual von Sean Scullys Vater, einem Barbier. Er zählte immer freitags sein Trinkgeld, also die Münzen, die er bekommen hatte. Diese Geschichte brachte der Künstler Kathrin Baumstark persönlich nahe, vorab hat er ihr einige Interviews gegeben: „Er hat mich tief in sein Leben hineingelassen.“ Darum zog sie aus ihren Gesprächen nicht bloß die Ausstellungs- und Katalogtexte, sondern lässt Sean Scully im Audioguide selber zu Wort kommen: „Es gibt nur Zitate des Künstlers. Kein Satz ist von mir.“
Als Kathrin Baumstark die Werke auswählte, hatte sie folgende Frage im Hinterkopf: Warum erkenne ich einen Scully sofort? Charakteristisch für ihn sind vor allem große Gemälde mit Schachbrettmuster, entstanden aus groben Pinselstrichen. Wenn man sich sein Bild „Chancery Rents“ von 1962 anschaut, entdeckt man bereits dort seine Vorliebe für Blöcke, für Linien, für Strukturen. Andere Werke wie „Man in Chair I“ von 1966/67 sind dagegen vom deutschen Expressionismus geprägt.
So reist man durch die Kunst jenes Mannes, der zunächst an 30 Kunsthochschulen abgelehnt wurde, bevor er einen Studienplatz bekam. Statt an weißen Wänden, wie sonst üblich, hängen die Arbeiten im Bucerius Kunst Forum an grau getünchten Wänden. Die Farbe Weiß sei ihr zu kalt gewesen, erläutert Kathrin Baumstark. Sie hat die Schau ganz bewusst chronologisch konzipiert: „Ich möchte zeigen, woher Sean Scully kommt und wohin er geht.“
Auch Aquarelle, Bleistiftzeichnungen oder Fotos helfen dabei, in seine Welt einzutauchen: „Sean Scully war nicht nur ein Berserker, es gibt auch poetische Werke.“ Fast schon apokalyptisch ist dagegen „Lost Land“ von 1985. Dieses brachiale Gemälde entstand, nachdem Sean Scullys 18-jähriger Sohn bei einem Autounfall gestorben war. Danach war für ihn alles anders. Dunkle Farben symbolisieren, dass sich sein Blick auf die Welt verdüstert hat. Ein rostbrauner Block bildet den Verfall ab, das verlorene Land.
Ganz am Ende der Retrospektive findet sich „Tower“ von 2024, das jüngste Werk des Künstlers. Bei diesem Schwarz-Weiß-Gemälde, inspiriert von Kubismus und Graffiti-Straßenkunst, sticht vor allem eins ins Auge: ein Loch. Für Kathrin Baumstark bietet es allerlei Interpretationsspielraum – eine Variante: „Dort, wo sonst das Herz sitzt, ist ein Loch.“

Die Retrospektive „Sean Scully. Stories“, Bucerius Kunst Forum, Hamburg. Bis 02.11.25

Bild: Sean Scully: „Man in Chair I“, 1966-67, Privatsammlung © Sean Scully. Foto: courtesy the artist

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Dagmar Leischow