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Philipp Blom: „Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“

Nicht nur das große Welttheater der Salzburger Festspiele, weltweit bedeutendstes Festival für klassische Musik und darstellende Kunst, welches diesen Sommer sein 100-jähriges Jubiläum hatte, ist hier gemeint. Aus diesem Anlass war der Historiker und Philosoph Philipp Blom beauftragt worden, etwas beizutragen. Er hatte seitens der Veranstalter freie Hand und hat alles in die Waagschale geworfen, was ihm zur Verfügung steht. Seine Überlegungen und Betrachtungen gehen weit über die unmittelbaren Fragen der Bühnenkunst hinaus. Die Festtagsschrift wurde zu einem brillanten und äußerst anregenden Essay.
Bloms Ansatz: „Das große Welttheater ist ein Ort, an dem die Welt sich neu erfinden kann“. In dem schmalen Bändchen öffnen sich weite Räume für neue Ideen und gedankliche Experimente. In einem spannend geführten dramaturgischen Bogen wird uns das Schauspiel der 4000-jährigen Menschheitsgeschichte vorgeführt, dessen Hintergrund, wie könnte es anders sein, zwielichtig gestimmt ist. Denn: „Nach dem klassischen Verständnis des Dramas ist die Welt längst in der Krisis angekommen. Was aber danach kommen mag, eine Katastrophe oder der Schimmer einer Katharsis, ist völlig offen. Das Welttheater wartet auf Akteure, um eine andere Erzählung zu beginnen.“ Einen Abstand zur derzeitigen Lage schafft Philipp Blom dadurch, dass er drei entscheidenden, weit zurückliegenden historischen Menschheitskrisen mit ihren Zäsuren und Umbrüchen, den daraus hervorgegangenen Bewusstseinswandlungen und Entwicklungsschüben nachgeht. Das ist die sogenannte Kleine Eiszeit um die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Epoche der Aufklärung und der Erste Weltkrieg. Mit diesem historischen Abstand wird der Blick auf unsere Gegenwart präzisiert und erhellt. Im Vergleich zur gegenwärtigen Krise eröffnen sich überraschende Perspektiven. Wie damals, so müssten auch heute neue Ansätze des Denkens, Lebens und Überlebens gefunden werden.
„Das große Welttheater“ beschwört die Magie der Bühne als eine Projektionsfläche, einen Ort der gemeinsamen Imagination, wo Selbstergründung und Selbstfindung stattfinden können. Als Theaterkenner zeigt Philipp Blom auf, dass William Shakespeare zwar geahnt habe, dass er in einer Zeit des Umbruchs lebte, aber seine Stücke beschrieben eine Weltsicht, die sich seit der griechischen Tragödie nicht wesentlich geändert hatte. Seine Figuren zerbrechen an unumstößlichen Verhältnissen und sterben oft am Ende schön, aber sie sterben eben. Fast zweihundert Jahre nach Shakespeare würden die Helden von Friedrich Schiller zwar auch tragisch scheitern an der Macht der Verhältnisse, doch mit einem entscheidenden Unterschied: „Sie wollen die Welt verändern, sie rebellieren nicht gegen ihr persönliches Unglück, sondern gegen die Ungerechtigkeit der herrschenden Ordnung, sie fordern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle.“ Obwohl sie sich selbst dafür opfern, seien sie doch Vorboten für eine neue Zeit, da sie einen Anspruch erheben auf die Veränderung der Gesellschaft, in der alles ganz anders zugehen könnte. Mit Schillers Dramen im Klima der Aufklärung eröffnen sich völlig neue Denkräume und Bilder, und so müssten auch mit der heutigen Krise wieder neue Geschichten entstehen.
Als mögliche Versionen eines solchen Erzählens nennt Philipp Blom zum Beispiel Hygienedemonstrationen und das Auftreten von Globalisierungsgegnern. Wo sich eigentlich nichts mehr bewegt, alles in einem Status quo stecken zu bleiben scheint, kann ja jeder kleine Anstoß schon von Bedeutung sein. Mit Scharfsinn führt uns der Historiker vor Augen, dass die westliche Welt nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Friedens und Wohlstands – der auf Sklaverei, Ausbeutung, Unterstützung von Diktatoren und vor allem auf massiver Umweltzerstörung basiert -, in einer Krise steckt. Durch seine Ansichten wurde Philipp Blom schon als Untergangsprophet bezeichnet, obwohl er nur konsequent versucht, Fakten zu analysieren. In seinem Essay „Das große Welttheater“ erweist er sich als ein Experte für die Zeitenwende, der von Klarsicht und Liebe zur Vernunft geleitet ist, es auch an Ironie und Wärme nicht fehlen lässt. Bereits für den Philosophen Ludwig Wittgenstein war die Welt vor allem die Summe aller Tatsachen. Aber Blom bleibt bei Tatsachen und Fakten nicht stehen, denkt sie auch weiter auf eine bisher noch nicht vernommene Weise. Das Internet und die Sozialen Medien sieht er als einen bedenklich faktenfreien Raum, wo jeder Nutzer sich Fakten zurechtschustern und Verschwörungstheorien verbreiten kann. Das unterwandere gefährlich die eigentlichen, auch wissenschaftlich belegbaren Tatsachen.
Neben seinen bisweilen meditativen Betrachtungen, kommen in Philipp Bloms großartigem Essay auch die nackten Zahlen nicht zu kurz. Zahlen etwa zum angewachsenen CO2-Ausstoß und zur Plastikvermüllung des Planeten. Er rechnet vor, dass 1970, in seinem Geburtsjahr, weltweit 35 Millionen Tonnen Plastik produziert wurden. Schon 2015 sind es 381 Tonnen gewesen, und 2016 wurden allein 480 Milliarden PET-Flaschen verkauft. Die Zahlen machen es überdeutlich: Der Mensch ist weiter denn je davon entfernt zu begreifen, dass er ein Teil der Natur ist, die er zerstört. Die Ordnung, in der wir heute leben, führt Blom zurück auf das biblische Gebot: „Mach dir die Erde untertan.“ Diese Geschichte sei an ihr Ende gekommen. Denn wie sollte die Ausbeutung der Erde, ein unendlich fortschreitendes Wirtschaftswachstum bei endlichen Ressourcen, auf Dauer möglich sein? Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass die Zeichen auf Sturm stehen, der Kampf um die Zukunft begonnen hat. Auf die Bühne seines Welttheaters, ins Spotlight, stellt Philipp Blom den Homo Sapiens als ein Zwitterwesen zwischen Hell und Dunkel, Gut und Böse. Überdeutlich wird: Die „Krone der Schöpfung“ (der Mann als Macher) ist ins Wanken geraten.
Laufend verwandelt sich die Welt als Bühne, in größerer Geschwindigkeit denn je. Bei nie dagewesenen, rasanten Entwicklungen kommt die Politik mit ihrem Parteiengezänk, ihren Machtkämpfen und ausufernden Debatten längst nicht mehr hinterher. Auf Warnzeichen wird zwar reagiert, aber kaum vorausschauend gehandelt, zaghafte Ansätze versanden schnell im Tagesgeschäft. Es sind zähe, oft lähmende Prozesse der Auseinandersetzung, doch gibt es für unsere parlamentarische, demokratische Regierungsform keine Alternative. Aber auch eine Demokratie müsse sich wandeln, in ihrem Selbstverständnis ändern können. In komplizierten Zeiten gibt es nun einmal keine einfachen Lösungen, und alle die das in der Politik versprechen, möchten zuallererst Wahlen gewinnen. „Populistische Politiker“, stellt Blom fest, „haben weltweit bewiesen, dass große Teile ihrer Gesellschaft es vorziehen, an alten Geschichten festzuhalten, anstatt sich neuen Realitäten zu stellen.“ Gleichzeitig schwinde damit die Möglichkeit in einer akuten Krise angemessen zu handeln und zu tun, was notwendig ist. Im Zweifel sei ein Rüstungsdeal wichtiger als eine Uno-Resolution. Die kollektive Erzählung von Wachstumsökonomie, industrieller Moderne und hemmungsloser Ausbeutung unserer natürlichen Grundlagen sei vorbei. „Neue Bilder zu finden für diese Herausforderung ist das Friedensprojekt der Gegenwart“.
Dass uns die vertraute Welt langsam abhanden kommt, ist in den Augen des Historikers nicht erst seit Corona der Fall. Doch könnte diese Krise möglicherweise eine Generalprobe für viel größere, gewaltigere Umwälzungen sein. An COVID-19, sagte Blom in einem Interview nach Veröffentlichung seines Buches, interessiere ihn, dass das Virus „kein lösbares Problem“ sei. Ein Weg müsse gefunden werden, sich mit dem Rest der Natur, deren Teil wir nun einmal sind, „intelligent zu arrangieren“. Die Pandemie sei nur ein Symptom für viel größere Probleme, eben auch ein Zeichen dafür, dass es mit der Herrschaft des Menschen über die Natur an ein Ende komme. Es müsse doch zu denken geben, „dass ein kleiner blöder Virus von einem Wet market irgendwo in China die höchst­entwickelten Gesellschaften der Welt innerhalb von wenigen Tagen völlig lahm legen kann“. Wenn er, Blom, die klimatischen Auswirkungen des Raubkapitalismussystems anspreche, bekomme er zu hören: „Ja, tut uns schrecklich leid, ist schon tragisch. Aber man kann nichts dran machen, die Wirtschaft muss weitergehen.“ Natürlich, doch eben ganz anders, mit einem neuen, besseren Ökonomieverständnis wie bisher. Jetzt sehe man ja auf einmal, dass Staaten durchaus die Notbremse ziehen können.
Doch Philipp Blom ist leidenschaftlicher Mahner und Mutmacher zugleich. Sein Essay ist ein flammendes, mitreißendes Plädoyer für eine große, weltweite Veränderung, in dem Politisches und Privates, Historisches und Visonäres in einen Denkprozess eingebunden sind. Nur eine einschneidende Veränderung könne noch verhindern, dass, in Bloms Worten, „unser Planet zur Weltbühne eines apokalyptischen Schauspiels ohne Publikum wird“. Die Bühne brauche ganz andere Figuren und Geschichten, um eine neue Wirklichkeit zu beschreiben und Haltungen zu stärken, die dieser Wirklichkeit angemessen sind. Noch ließen sich nicht diejenigen Figuren erkennen, die einmal eine Schlüsselrolle spielen könnten, aber gerade in der jüngsten Vergangenheit rekrutiere sich ein ganzer Schwung neuer Akteure auf der Weltbühne. Es hat sich schon längst gezeigt, dass das demokratische Projekt der Moderne zum Gegenstand neuer sozialer Konflikte werden wird.
Mit Optimismus alleine und einem „Weiter so!“ kann es keine Veränderung, kein Weiterkommen mehr geben. Zumal nicht mit einer Politik, die in ihrer Verquickung mit der Wirtschaft immer noch festhält an der entleerten Formel vom ewigen Wachstum. Eines Fortschritts, der vor nichts Halt macht, der Sicherheit und Wohlstand, vor allem den Reichtum von nur Wenigen garantieren soll. „Politische Clowns und Entertainer in internationalen Führungspositionen sind die logische Konsequenz einer Zivilisation, deren Imagination längst vermarktet wurde und von kommerziellen Interessen bewirtschaftet wird wie ein Acker Kohl, einer Gesellschaft, in der Celebrities die Helden der gemeinsamen Geschichte sind. … Je stärker die disruptiven Effekte des Klimanotstands werden, desto größer wird das Bedürfnis nach Sicherheit, nach starken Männern, einfachen Lösungen, nach Bestätigung und Ausgrenzung.“ Das erleben wir gerade. „Manchmal kann eine neue Geschichte sich erst etablieren, wenn die alte zu einer Ruine zerfallen ist.“
Eine Hoffnung liegt besonders auf den jungen, sich noch nicht in festen Bahnen bewegenden Menschen, die es sich nicht nehmen lassen und darauf beharren, noch etwas vor sich zu haben. Könnten wir nicht mehr vertrauen auf die Jugend, wäre in der Tat alles zu spät. In seinem Fazit hebt Philipp Blom eine Figur hervor: „Ein schwedisches Mädchen im Teenageralter mit langen Zöpfen, ein unfreiwilliges Weltgewissen mit Asperger-Syndrom, eine moderne Jeanne d’Arc, die einer korrupten Gesellschaft den Spiegel vorhält und deren einsam-trotziger Appell an die Erwachsenen eine globale Protestbewegung losgetreten hat.“ So kommt der Historiker am Ende auf die Bewegung von „Fridays for Future“ zu sprechen, deren Weckrufe für ihn ein Hoffnungsschimmer sind. Und so bleibt auch der Leser nach der Lektüre bei allen erschütternden Befunden nicht ganz hoffnungslos zurück. Denn: „Vielleicht kann die Energie einer weiter gedachten Aufklärung tatsächlich neue Geschichten beflügeln, neue Figuren auf die Bühne stellen.“

„Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“ ist im Paul Zsolnay Verlag erschienen, hat 126 Seiten und kostet 18 Euro.

Bildquellen

  • Der Autor Philipp Blom: Bogenberger Autorenfotos