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Ein Spiel um Macht: Die Händelfestspiele in Karlsruhe eröffneten mit Händels wenig bekannter Oper „Siroe, Re die Persia“

Es gibt nur wenig, was das normalsterbliche Publikum mehr reizt als dysfunktionale Herrscherfamilien. Das war schon im 18. Jahrhundert so, lange vor „The Crown“ oder „Game of Thrones“. So erwies sich die Wahl von „Siroe, Re di Persia“ zur Eröffnung der diesjährigen Internationalen Händel-Festspiele in Karlsruhe als Volltreffer. Diese wenig bekannte Oper von Georg Friedrich Händel begeistert Barockmusikfans durch wunderschöne, oft sehr emotionale Musik. Ulrich Peters gönnte sich in seiner letzten Spielzeit als Intendant des Staatstheaters Karlsruhe die Freiheit, die Handlung in Fantasyoptik zu kleiden.
Das passt perfekt zur intrigenreichen Handlung. Wer „Herr der Ringe“ oder „Game of Thrones“ kennt, hat seinen Spaß. Aber man muss die Welten der Elben und Drachenherrscher nicht kennen, um mit Siroe mitzuleiden. Er, als ältester Sohn von Perserkönig Cosroe eigentlich der Thronfolger, hat einen richtig miesen Lauf. Sein hinterhältiger Bruder Medarse hat sich beim Vater so gut eingeschleimt, dass dieser den Jüngeren zu seinem Nachfolger ernennen will. Zu allem Unglück ist Siroe rettungslos in Emira verliebt, die Tochter eines besiegten und getöteten Feindes. Emira hat sich in Männerkleidern unter dem falschen Namen Idaspe am Hof eingeschlichen, um sich an Cosroe zu rächen. Siroe will das verhindern – nur wie, ohne Emiras Identität zu verraten?
Die wendungsreiche Handlung zeigt exemplarisch, wie sich der einzige sympathische und anständige Charakter, nämlich Siroe, heillos verheddert in seinen Versuchen, immer das Richtige zu tun. Heraus kommt etwas ganz anderes: Cosroe glaubt, Siroe würde ihn ermorden wollen, lässt ihn einkerkern und verurteilt ihn zum Tode. Während alle anderen dabei offenbar tatenlos zuschauen wollen, wenn sie nicht noch falsche Anklagen obendrauf setzen.
Bis auf den mit langen spitzen Stacheln verzierten Thron sieht Cosroes Hof aus wie ein Schlachtfeld. Die gigantische Statue aus der Zeit einer lange vergangenen Hochkultur ist zerstört, der Kopf liegt unten. Ausstatter Christian Floeren sorgt für ein dystopisches Endzeitfeeling. Und bis auf die schöne Laodice, Cosroes Mätresse, laufen alle ständig in Kampfmontur und Waffen herum, mit Mantel, Dolch und Schwert. Man kann ja auch keinem trauen, obwohl man das so gerne möchte. In der Interaktion der Solisten kommt das klar zum Ausdruck. Armin Kolarczyk verkörpert den strengen, unerbittlichen alten König – aber er schmilzt geradezu dahin, als Idaspe/Emira ihm versichert, er (also, eigentlich sie) sei als Einziger ihm treu. Sophie Junker, eine großartige Besetzung für die taffe, sich als Mann tarnende Emira, singt das auch so wundervoll klangschön.
Ihren Liebsten Siroe dagegen lässt sie eiskalt auflaufen. Rafal Tomkiewicz vermittelt mit seiner runden, weich timbrierten Stimme und seiner ausdrucksvollen Gestaltung die zunehmende Verzweiflung von Siroe. Der Vater glaubt ihm nicht, der Bruder will ihn aus dem Weg haben, die Geliebte will Rache und die von ihm abgewiesene Laodice will sich ebenfalls rächen. In Siroes Kerkerarie besingt Tomkiewicz die Selbstaufgabe Siroes. Ebenso erschütternd gelingt Armin Kolarczyk der Moment der Selbsterkenntnis von Cosroe. Als alle glauben, Siroe sei tot, enthüllen sie ihre Geheimnisse. Emira gibt sich zu erkennen, Laodice gesteht, Siroe zu Unrecht angeklagt zu haben.
Shira Patchornik singt und spielt eine mitreißend temperamentvolle, leidenschaftliche Laodice, die dem alten Cosroe die Leviten liest. Sie ist genau das richtige Gegengewicht zur schnell denkenden und bedenkenlos lügenden Emira, der erst im letzten Moment klar wird, dass ihre Liebe zu Siroe wichtiger ist als die Rache für den getöteten Vater. Nach all den expressiven, virtuos gesungenen Dacapo-Arien wird es Zeit für den Showdown im Kerker. Schwerter klirren, selbst die paillettenglitzernde Laodice greift zum Speer und das Gute siegt, schließlich handelt es sich um eine Barockoper. Die sollte das Publikum erbauen und das Idealbild eines aufgeklärten Herrschers zeichnen.
Ulrich Peters managt das in seiner ausgefeilten und gelegentlich auch witzigen Personenführung geschickt. In schönsten Tönen versichert Emira, nie würde sie aufhören, Siroe zu lieben. Der aber ist zutiefst verletzt und lässt sich viele Takte lang bitten, bevor er doch nachgibt. Und wie Emira, Laodice und Siroes Freund Arasse (souverän Konstantin Ingenpass) die Augen rollen und die Köpfe schütteln, als Gutmensch Siroe auch noch Medarse auf die Schulter klopft. Dabei hatte der (herrlich fies: Filippo Mineccia) eben noch versucht, Siroe zu ermorden.
Im Schlusschor wird ein Happy End gefeiert, das keines ist. Laodice muss auf Siroe verzichten. Medarse bricht vor dem für ihn plötzlich nicht mehr erreichbaren Thron zusammen. Und das eben ernannte Herrscherpaar Siroe und Emira? Das verschwindet fröhlich im Wald. Cosroe legt die Krone auf den vakanten Thron, für eine neue Runde im Spiel um die Macht. Die Deutschen Händel-Solisten spielen dazu unter der Leitung von Attilio Cremonesi den rhythmisch pulsierenden, oft sehr dramatischen Orchesterpart. Bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe im nächsten Jahr (21.2. – 7.3.2025) wird „Siroe“ wieder gespielt.

Bildquellen

  • Rafal Tomkiewicz, Sophie Junker: Foto: Felix Grünschloss