Von Witebsk zur Pariser Bohème
„Marc Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911 bis 1919“ im Kunstmuseum Basel
Basel scheint derzeit ein Ort der Blockbuster. In der Fondation Beyeler ist Paul Klee zu sehen, im Kunstmuseum Basel Marc Chagall. Möglicherweise steht es derzeit nicht gut für Experimente, zumal das Kunstmuseum Basel zwischenzeitlich ein veritables Finanzproblem bekommen hat.
Josef Helfenstein, Direktor des Kunstmuseums Basel und Kurator der Ausstellung „Marc Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911 bis 1919“ würde es anders sehen: Basel besitzt herausragende Werke des Künstlers, unter anderem drei der vier Großen Rabbiner und die Schau schließt eine Lücke, denn Chagall wurde bislang in Basel noch nicht mit einer musealen Einzelausstellung bedacht.
Doch was kann eine derartige Präsentation noch Neues über einen Maler erzählen, bei dem im Kopf eine Art Soundtrack – wahlweise Klezmer oder Anatevka – abläuft, sobald man seine Bilder betrachtet? Das Kunstmuseum Basel setzt einerseits mit dem Beginn von Marc Chagalls Aufenthalt in Paris im Jahr 1911 ein und stellt den Bildern andererseits zeitgenössische Aufnahmen von Solomon Judowin und Roman Vishniac sowie jüdische Kultobjekte gegenüber.
Die Eingrenzung auf die Jahre zwischen 1911 und 1919 bezieht den ersten Aufenthalt in Paris und die Begegnung mit der Avantgarde mit ein, aber auch den Ersten Weltkrieg, der Chagall zwang nach Russland zurückzukehren und dort acht Jahre zu bleiben. Als Chagall nach Paris kam, war er Mitte zwanzig. Arbeiten wie „Das gelbe Zimmer“ aus dem Jahr 1911 zeigen eine Synthese aus beiden Welten. Aus einem Raum mit einem Tisch, in dem die Perspektive aufgelöst zu sein scheint, öffnet sich der Blick hin zu einem Dorf, über dem der Mond steht, den ein roter Hof umgibt.
In Paris war Marc Chagall mit Werken unter anderem von Picasso sowie Robert und Sonia Delaunay konfrontiert, er selbst konnte bereits 1912 erste Erfolge verzeichnen. Beim Salon des Indépendants fiel der 1887 in Witebsk geborene Maler auf. Chagall prägte eine Form des Surrealismus, die das Neue mit dem Alten verband, in dem er die Geschichten in seinen Bildern fortführte.
In „Ich und mein Dorf“, ebenfalls von 1911, konstruiert Chagall komplexe Bildräume. Hinter der Gegenüberstellung eines Pferdes und dem Kutscher finden sich dörfliche Szenen, ein Bauer und seine Frau und das Dorf mit seinen Häusern. Alles ist gleichzeitig präsent und unter Verzicht der Zentralperspektive gemalt.
Dass Chagalls Bilder bereits in den 1910er Jahren Erinnerungsräume waren, zeigt die Gegenüberstellung mit Fotografien von Solomon Judowin, die dieser auf einer ethnologischen, von Semen An-Ski geleiteten Expedition macht. Judowin, der wie Chagall in Witebsk geboren war, dokumentierte das osteuropäische Judentum mit seiner Volkskultur, das erst durch Pogrome bedroht war, dann gänzlich von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde.
Roman Vishniac, dessen Fotos bekannter sind, bereiste Galizien etwa zwanzig Jahre später, man glaubt auf ihnen stärker den Untergang des osteuropäischen, orthodoxen Judentums zu erkennen. Nicht allein wegen der auffälligen großen Armut, sondern auch wegen des aufkommenden Antisemitismus.
Marc Chagall klammert die soziale Wirklichkeit aus, die Welt des Schtetl ist bereits erinnerte Vergangenheit. Die Präsentation dieser Fotos sowie der Kultobjekte schärft den Blick auf die Bilder, auch wenn dies pädagogisch anmuten mag. Doch wer die Zitrone auf Chagalls Bild „Rabbiner mit grüner Zitrone“ durch die entsprechenden Gegenstände mit dem Laubhüttenfest in Verbindung bringen kann, hat zweifelsfrei einen Zugewinn und Marc Chagall ist ein bisschen weiter vom Kitsch entfernt, der so oft die Rezeption seines Werkes prägt.
Marc Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911-1919. Kunstmuseum Neubau, St. Alban-Graben 16, Basel. Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr. Bis 21. Januar 2018.
Annette Hoffmann