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„Du musst dein Leben ändern“: Was ein berühmtes Sonett Rilkes bedeuten kann. Für Uwe Pörksen (1935–2025).

Am 5. Dezember 1875 wurde Rainer Maria Rilke geboren. Der Jubilar gilt als der wichtigste deutschsprachige Lyriker des frühen

„Du musst dein Leben ändern“: Was ein berühmtes Sonett Rilkes bedeuten kann. Für Uwe Pörksen (1935–2025).

Am 5. Dezember 1875 wurde Rainer Maria Rilke geboren. Der Jubilar gilt als der wichtigste deutschsprachige Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Lebensstationen trugen ihn von seiner Geburtsstadt Prag über Berlin, Worpswede und andere Orte 1902 zum ersten Mal nach Paris. Er hatte den Auftrag übernommen, eine Biografie über den Bildhauer Auguste Rodin zu schreiben (die alsbald in zwei Teilen 1903 und 1907 erschien). Rilke erhielt eine Anstellung als Rodins Privatsekretär, er regelte seine Geschäfte, betreute und beriet Kunden beim Kunstankauf. 1902 war Rodin 61 Jahre alte, Rilke 26 – eine spannungsgeladene ‚Vater-Sohn-Beziehung‘. Doch dann kommt es zum Bruch, im Mai 1906 erhält Rilke die fristlose Kündigung; seine Wertschätzung für den Künstler blieb freilich.

Die Sammlung „Neue Gedichte“, deren erster Teil 1907, der zweite 1908 (dieser Rodin gewidmet) jeweils bei Insel publiziert wurden, gilt als Hauptwerk der mittleren Schaffensperiode Rilkes. Das erste Schlüsselwort des Gedichts im Titel lautet: „archaisch“. Der Begriff kann allgemein im Sinne von ‚altertümlich‘ gemeint sein – aber auch ganz konkret als Epochenbezeichnung. Die archäologische Debatte über die „‚Archaik“ des 7. und 6. Jahrhunderts vor Christus, jener Epoche, die der griechischen „Klassik“ des 5. Jahrhunderts voranging, war in diesen Jahren gerade erst im Gange. Jedenfalls wird im Text eine Skulptur imaginiert, die nicht ‚neu‘, nicht zeitgenössisch ist, kein aktueller Torso Rodins also, gewiss eher ein ‚antiker‘. Dann entsteht die Frage, ob es sich um eine allgemeine Assoziation Rilkes gehandelt hat, oder ob er ein spezifisches ‚Bild‘, eben eine ganz bestimmte Statue vor Augen hatte. Dafür sprechen Argumente: Wie konkrete, dingliche Anschauung Rilke inspirierte, zeigt zum Beispiel sein Gedicht „Das Karussel“ (1906), das er ganz offenbar im Angesicht eines unablässig kreisenden Kinderkarussels im Jardin du Luxembourg verfasste. Es wurde auch in Erwägung gezogen, dass eine Apollon-Statue in Rodins eigener Antikensammlung als Vorbild und Anregung gedient haben könnte – allein, dergleichen fand sich nicht. Also spricht Vieles dafür, dass Rilke seine Anregung woanders in Paris erhielt – die erste Adresse ist der Louvre.

Der Archäologe Ulrich Hausmann identifizierte in einer Abhandlung von 1947 die von Rilke beschriebene Skulptur mit dem sog. Torso von Milet. Sowohl in der germanistischen als auch in der kunsthistorischen Forschung bleibt dieser Vorschlag nahezu vollständig ausgeklammert. Mehrheitlich interpretiert man in das Sonett eine eher generelle Umspielung von Torso-Gedanken und -Konzepten. Doch es kommen andere, starke Indizien für die Deutung Hausmanns in Betracht: Der Torso von Milet gelangte 1873 als Geschenk der Rothschilds in den Pariser Louvre. Aus dem 1,32 Meter hohen Bruchstück lässt sich eine Gesamtgröße der ursprünglichen Statue von etwa 2,60 Meter erschließen. Die Skulptur gehört der Zeit des Übergangs von der ‚Archaik‘ zur ‚Klassik‘ an, einem Epochenübergang also – in dem sich ebenso Rodin und Rilke befanden. Ein zweites Text-Indiz bei Rilke lautet: „im leisen Drehen der Lenden“: Das markiert einen noch stockenden, staksigen Körperaufbau – just jene Übergangsphase des ‚Strengen Stils“ am Beginn des 5. Jahrhunderts hin zur ‚klassischen‘ Ponderation der Statue, zum Kontrapost.

Der ‚Archaische Torso‘ steht markant an der Spitze des zweiten Bands der ‚Neuen Gedichte‘. Also fällt besonders auch der Blick auf den berühmten und später vielfach zitierten Schluss-Vers: „Du musst dein Leben ändern“. Es gibt auch hier mehrere Möglichkeiten: Entweder, so liest man es meist, das sog. ‚Lyrische Ich‘ suggeriert dem Leser, dass nach Betrachtung solch eines Torsos alles anders sein wird als zuvor – sowohl für den Dichter als auch den Leser. Oder Rilke appellierte am Ende vorrangig an sich selbst: ‚Ich muss mich ändern‘. Oder, und das wäre am Ende eine überraschende Wendung: Rilke versteckte in dem Sonett just auch eine Frage an Rodin. Denn so sehr Rodin als moderner Erfinder des Torso-Konzepts gelten darf, also Skulpturen ‚unfertig‘ zu konzipieren und präsentieren (wofür er anfänglich vielfach von der Kunstwelt kritisiert wurde), so deutlich ist auch: seine formalen Vorbilder sind stets weichere, fließende, deutlich tordierte Statuen des 19. Jahrhunderts oder des antiken Hellenismus gewesen. Rilkes Gedicht, das Alles bis dahin Gewesene auf den Kopf stellte und jede poetische Anverwandlung eines Bildhauerwerks neu begründete, rückt also am Ende zugleich die Überlegung ins Licht, ob er nicht auch Rodin selbst mit dem Sonett indirekt zu kritisieren wagte.

Veranstaltungshinweis:
Do., 4.12., 19.30 Uhr: Ullo von Peinen (Freiburg), Rezitation, & Ursula Meyer (Berlin), Klavier; „Ich lerne sehen – ja, ich fange an“: Ein Rezitationsabend zum 150. Geburtstag von Rainer Maria Rilke mit Musik von Claude Debussy. Archäologische Sammlung der Universität Freiburg, Herderbau.

Archaischer Torso Apollos (1908)

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

Abbildung: Torso von Milet, um 470 v. Chr., Paris, Musée du Louvre (Quelle: Archäologisches Institut Uni Freiburg, Archiv)

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Martin Flashar