Ein Chefdirigent unter Beobachtung: Das Antrittskonzert von François-Xavier Roth mit dem SWR Symphonieorchester sorgt für einige Buhrufe und viel Beifall
Ein erster Klang wie ein Schock. Die geräuschvoll gestrichenen Bogenwechsel machen aus dem Cluster eine echte Panikattacke. Der „Le
Ein erster Klang wie ein Schock. Die geräuschvoll gestrichenen Bogenwechsel machen aus dem Cluster eine echte Panikattacke. Der „Le Cahos“ genannte Beginn von Jean-Féry Rebels Orchestersuite „Les élémens“ ist auch noch knapp 300 Jahre nach seiner Entstehung verstörend. François-Xavier Roth lässt die Streicher des SWR-Symphonieorchesters bei seinem Antrittskonzert als Chefdirigent im voll besetzten Freiburger Konzerthaus im Stehen und ohne Vibrato spielen. Das verstärkt die dramatische Wirkung der Ballettmusik, gefährdet aber die Balance, weil die beiden ganz hinten postierten Cembali leider kaum zu hören sind. Auch die Holzbläser dringen bei den Forte-Passagen kaum durch die massive Streicherwand. Der raue, vibratolose Orchesterklang kann aber auch zart werden wie in „Rossignols“, wo Vogelzwitschern auf duftige Pizzicati trifft.
Die scharfen Dissonanzen zu Beginn des Antrittskonzertes waren von Roth als musikalischer Wachmacher programmiert – man könnte sie aber auch ganz aktuell als Nachhall auf jüngste Ereignisse empfinden. Wenige Tage vor den Eröffnungskonzerten veröffentlichte die Schauspielerin Janina Picard (Jahrgang 1994) einen Instagram-Post, in dem sie dem neuen Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters unangemessene Berührungen und anzügliche Textnachrichten während einer KiKa-Produktion vorwarf, als sie 16 war. Der SWR nahm Kontakt zu ihr auf, Roth bestritt die Vorwürfe vehement mit einer eidesstattlichen Versicherung. Schließlich löschte Picard ihren Post. Zur Erinnerung – im Mai 2024 hatten sieben Musikerinnen im französischen Satiremagazin „Le Canard enchaîne“ Roth sexuelle Belästigung vorgeworfen. Roth verlor daraufhin seinen Posten als Chefdirigent des Kölner Gürzenich-Orchesters, das auch in Zukunft nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten will. Nach einer allgemein formulierten, kollektiven Entschuldigung bei allen, die er verletzt haben könnte, zog er sich ein Jahr aus dem Musikleben zurück, um an sich zu arbeiten. Nun also eine neue #MeToo-Anklage. In ihrer Begrüßungsrede im Konzerthaus geht Anke Mai, SWR Programmdirektorin Kultur, Wissen und Junge Formate, auf die jüngsten Vorwürfe ein, spricht vom sorgfältigen Abwägen des Senders und bittet das Publikum um Vertrauen. Dieses reagiert neben einigen Buhrufen auch mit demonstrativem Beifall für den neuen Chefdirigenten, der in seiner Zeit als Leiter des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (2011-2016) wegen seiner künstlerischen Qualität und seines Widerstands gegen die schließlich vollzogene Orchesterfusion große Sympathien genoss. Roth bleibt jedenfalls als neuer Chefdirigent unter Beobachtung, auch innerhalb des Orchesters.
Mit Luciano Berios 1968 komponierter „Sinfonia“ für acht Singstimmen und Orchester hat Roth ein groß besetztes, vielschichtiges, immer noch sehr modern klingendes Werk programmiert, bei dem auch Solistinnen und Solisten des SWR Vokalensembles an den Stimmführerpulten beteiligt sind (Klangregie: Matthias Schneider-Hollek). Die Texte von Claude Lévi-Strauss im ersten Satz sind in Silben aufgesplittert, die Übergänge zwischen gesungen und gesprochen geraten fließend. Im dritten Satz geistern Passagen aus Gustav Mahlers 2. Sinfonie durch das Orchester, aber auch Motive von Maurice Ravel und Richard Strauss klingen an, während englische Texte, die sich mit den Pariser Studentenunruhen beschäftigen, ohne Punkt und Komma rezitiert werden. Die verschiedenen Klangschichten erscheinen wie unter dem Mikroskop.
Auch bei Franz Schuberts großer C-Dur-Sinfonie ist diese Transparenz, die man sich auch vom SWR in der Kommunikation nach innen und außen wünschen würde, zu hören. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Teodor Currentzis setzt François-Xavier Roth weniger auf Effekte als auf organische Entwicklungen. Die Schnittstellen und Höhepunkte arbeitet er heraus, ohne dabei zu übertreiben. Die Generalpause nach dem erschütternden Septakkord im zweiten Satz beispielsweise ist zwar auffällig lang, aber nicht manieriert – die anschließende, mit nur wenig Vibrato gespielte Cellokantilene bringt die zerstörte Welt wieder tastend in Ordnung. Am Eindrucksvollsten gelingt das extrem schnell musizierte Finale. Die Streicher bleiben in den rasenden Sechzehntelketten stabil. Die auch bogentechnisch anspruchsvollen Begleitfiguren haben die notwendige Leichtigkeit. Roth variiert die vielen Wiederholungen und baut einen großen Spannungsbogen auf, der bis zum Ende reicht. Applaus und Bravorufe im Freiburger Konzerthaus. Ob Roth es langfristig schafft, beim Orchester und Publikum Vertrauen aufzubauen, ist ungewiss. Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. Die Schatten der Vergangenheit liegen noch zu stark auf diesem Neubeginn.
Beitragsbild: François-Xavier Roth sorgte für einen dramatischen Antritt Foto: SWR/Anja Thölking





