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Die stille Epidemie: Geschlechtskrankheiten – zwischen Popkultur, Politik und Realität

Freddie Mercury sang sich mit schillernder Energie in die Herzen der Massen und verlor 1991 den Kampf gegen AIDS.

Die stille Epidemie: Geschlechtskrankheiten – zwischen Popkultur, Politik und Realität

Freddie Mercury sang sich mit schillernder Energie in die Herzen der Massen und verlor 1991 den Kampf gegen AIDS. Prince, das musikalische Enfant terrible mit Gender-Fluidität als Kunstform, wurde ebenfalls zur Ikone sexueller Selbstbestimmung. Die 1980er- und 1990er-Jahre waren eine Ära, in der Sexualität sowohl emanzipiert als auch stigmatisiert war. Die Ausbreitung von HIV/AIDS veränderte das Bewusstsein tiefgreifend – politisch, gesellschaftlich und popkulturell.
In den 1980er-Jahren erschütterte eine neue, mysteriöse Krankheit die Welt: AIDS. Das erworbene Immunschwächesyndrom, ausgelöst durch eine HIV-Infektion fiel zunächst in den USA unter homosexuellen Männern, Drogenkonsumenten und Häftlingen auf, wurde jedoch rasch zu einer globalen Epidemie, begleitet von Panik, moralischer Stigmatisierung und politischer Untätigkeit. Die medizinische Unsicherheit und das gesellschaftliche Schweigen waren lange größer als das öffentliche Verständnis. Ronald Reagan benannte die Krankheit als Strafe für Homosexualität und reagierte erst, als sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen war. Doch während Regierungen zögerten, setzten Kulturschaffende ein Zeichen.
Der Tod von Freddie Mercury 1991 war ein Wendepunkt: Der Queen-Frontmann bekannte sich erst einen Tag vor seinem Tod öffentlich zu seiner HIV-Erkrankung – ein spätes, aber aufrüttelndes Signal an Millionen Fans weltweit. Seine Stimme und Präsenz wurden posthum zum Symbol für den Kampf gegen AIDS und für ein selbstbestimmtes Leben trotz Krankheit und Vorurteil. Das Freddie-Mercury-Tribute-Konzert 1992 in London wurde nicht nur ein musikalisches Großereignis, sondern auch eine der ersten international wahrgenommenen Benefizveranstaltungen zur HIV-Aufklärung.
Die AIDS-Krise wirkte sich tiefgreifend auf Musik, Film und Mode aus. Künstler:innen wie Madonna oder George Michael machten die Krankheit und den Umgang damit zum Bestandteil ihrer Arbeit. In der Filmwelt setzte „Philadelphia“ (1993) mit Tom Hanks ein starkes Zeichen für Sichtbarkeit und Empathie. Später griffen Filme wie „Dallas Buyers Club“ (2013) oder „120 BPM“ (2017) die AIDS-Epidemie aus unterschiedlichen Perspektiven auf: als Chronik des Überlebens, als Porträt medizinischer Hilflosigkeit, als Aufschrei gegen politische Ignoranz.
Diese popkulturellen Reflexionen haben weit mehr bewirkt als bloße Aufmerksamkeit. Sie trugen zur Enttabuisierung von HIV/AIDS bei, machten queere Lebensrealitäten sichtbar und forderten eine menschenwürdige, solidarische Gesundheitsversorgung. Die kulturelle Auseinandersetzung wurde zu einem Teil des Widerstands gegen das Virus ebenso wie gegen gesellschaftliche Ausgrenzung. In einer Zeit, in der sich die HIV-Therapie medizinisch enorm verbessert hat, aber die kollektive Erinnerung in Vergessenheit gerät, bleibt dieses popkulturelle Erbe ein wichtiges Mahnmal.
Heute scheint dieser Kampf zu verblassen. Kondome gelten vielen Jugendlichen als Relikt, weil HIV dank Medikamenten wie PrEP und PEP nicht mehr als akute Bedrohung wahrgenommen wird. Gleichzeitig steigen die Infektionszahlen anderer sexuell übertragbarer Infektionen (STIs) dramatisch. Der Rückgang der Risikowahrnehmung betrifft nicht nur HIV, er verkennt, dass Kondome auch gegen andere STIs wie Syphilis, Gonorrhoe, Chlamydien oder HPV schützen. Während Dating-Apps unkomplizierte sexuelle Begegnungen fördern und offene Sexualität zunehmend normalisiert wird, bleibt die schulische Aufklärung hinter den Anforderungen zurück. Tests und Screenings, etwa anonym bei Gesundheitsämtern oder über die Aidshilfe, sind verfügbar, werden aber zu wenig genutzt. Die Schere zwischen sexueller Befreiung und medizinischer Vernachlässigung öffnet sich erneut.

Kampagne 2006: Aufforderung zum Gebrauch von Kondomen © BzGA

Die Stille Epidemie unserer Generation
Laut dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) steigen die Fallzahlen sexuell übertragbarer Krankheiten in vielen europäischen Ländern signifikant an, darunter auch Deutschland. Besonders Syphilis, Gonorrhoe und Chlamydien sind wieder auf dem Vormarsch.
Das Robert Koch-Institut (RKI) verzeichnet 2022 in Deutschland mehr als 8.000 gemeldete Syphilisfälle. Ab dem Jahr 2001, seitdem eine Meldepflicht besteht, haben sich die Fallzahlen verzehnfacht. Syphilis betrifft vor allem Männer. In 2022 und 2023 haben sich etwa 15-mal so viele Männer wie Frauen mit der Krankheit angesteckt. Besonders alarmierend ist zusätzlich der Anstieg kongenitaler Syphilis, also Fälle, in denen die Erkrankung während der Schwangerschaft von der Mutter auf das ungeborene Kind übertragen wird. Diese Form der Syphilis kann zu Tot- oder Frühgeburten, Organfehlbildungen und schweren neurologischen Schäden führen. Besonders in den USA handelt es sich dabei um ein steigendes Problem.
Fast 100.000 Menschen erkrankten 2023 in den EU- und EWR-Staaten an Gonorrhoe, umgangssprachlich auch als Tripper bekannt. Dies entspricht einem Anstieg von 31 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Zehnjahresvergleich wird die Entwicklung noch deutlicher. Seit 2014 hat sich die Zahl der Erkrankungen mehr als verdreifacht. Die höchsten Fallzahlen gibt es bei Frauen zwischen 20 und 24 Jahren. In dieser Altersgruppe stieg die Anzahl innerhalb eines Jahres um 46%. Besonders in städtischen Regionen wie Berlin oder München steigen die Zahlen kontinuierlich. Die WHO geht weltweit von über 80 Millionen neuen Infektionen pro Jahr aus. Gonorrhoe kann unbehandelt zu Unfruchtbarkeit führen und gilt weltweit als einer der führenden Ursachen für Unfruchtbarkeit bei Frauen.

Geschlechtskrankheiten sind auf dem Vormarsch © Robert Koch Institut

Chlamydieninfektionen sind die am häufigsten gemeldeten bakteriellen STIs in Deutschland. Fachstellen wie das RKI und die Deutsche STI-Gesellschaft zur Förderung der Sexuellen Gesundheit (DSTIG), die anhand von Labor-Stichproben und im Rahmen von Studien die Krankheit untersuchen, gehen davon aus, dass sich in Deutschland aktuell jedes Jahr 300.000 Menschen mit Chlamydien infizieren. Damit macht Chlamydia fast 50% aller STI-Fälle im Land aus. Das Robert Koch Institut schätzt, dass in Deutschland etwa 10 Prozent aller sexuell aktiven weiblichen Jugendlichen mit Chlamydien infiziert sind. Da nur ein Teil der Bevölkerung getestet wird und die Meldepflicht nicht allgemein gilt, dürfte die tatsächliche Zahl weit höher liegen. Besonders problematisch ist die hohe Dunkelziffer aufgrund asymptomatischer Verläufe. Auch diese Krankheit kann bei Frauen und Männern zu Unfruchtbarkeit führen. Unbehandelt verursachen die Erreger bei zehn bis 40 Prozent der betroffenen Frauen eine aufsteigende Infektion/Beckenentzündung. Diese wiederum kann zu chronischen Schmerzen, einer Verklebung der Eileiter und bei bis zu 7% zu Unfruchtbarkeit führen. Das macht Chlamydien zu einer der Hauptursachen für Unfruchtbarkeit in Industrieländern. Die WHO geht global von 127 Millionen neuen Fällen jedes Jahr aus. Deshalb steht jungen Frauen bis 25 Jahre jährlich ein Test auf Chlamydien beim Frauenarzt zu. Eine Infektion lässt sich mit Antibiotika behandeln, bleibt jedoch aufgrund asymptomatischer Verläufe häufig unentdeckt.
Humane Papillomviren (HPV) sind die weltweit am weitesten verbreiteten sexuell übertragbaren Viren. Die WHO schätzt, dass etwa 80 % aller Menschen im Laufe ihres Lebens sich mit HPV anstecken. Gegen HPV kann man sich impfen lassen, jedoch stagnieren die Impfraten bei Jugendlichen. Im Jahr 2022 waren nur etwa 51 % der 15-jährigen Mädchen und 27 % der Jungen vollständig gegen HPV geimpft. Die WHO strebt eine Quote von mindestens 90 % an. Ohne Impfung kann HPV zu Krebserkrankungen führen. So geht der Oberste Gesundheitsrat von Luxemburg davon aus, dass über 99 % des Gebärmutterhalskrebses auf eine HPV-Infektion zurückzuführen sind. Die HPV-Impfung ist vor allem zur Vorbeugung von Gebärmutterhalskrebs bekannt, doch nicht nur Mädchen sollten sich, wie häufig empfohlen gegen HPV impfen lassen. Humane Papillomviren können auch bei Männern Krebserkrankungen verursachen: am Penis, im Rachen und im Anus.
Seit 2018 wird die HPV-Impfung nicht mehr ausschließlich für Mädchen, sondern auch für Jungen im Jugendalter empfohlen. Zwar treten HPV-bedingte Tumorerkrankungen bei Männern seltener auf als Gebärmutterhalskrebs bei Frauen, doch aktuelle Erhebungen des Robert Koch-Instituts deuten darauf hin, dass ihr tatsächliches Ausmaß bislang unterschätzt wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich zwischen 1.358 und 2.340 Männer in Deutschland infolge einer chronischen HPV-Infektion an einem bösartigen Tumor erkranken.

Kondome schützen
HIV galt in den 1980er- und 1990er-Jahren als Synonym für Angst, Ausgrenzung und Tod. Entsprechend intensiv waren die Aufklärungskampagnen, etwa mit dem Slogan „Gib AIDS keine Chance“, die Kondome als Schutzmittel etablierten. Heute sind HIV-Infektionen dank moderner Therapien medizinisch beherrschbar und unter Therapie nicht mehr übertragbar. In Deutschland wurden 2022 rund 1.900 HIV-Neuinfektionen gemeldet, weltweit waren es noch immer über 1,3 Millionen. Doch mit der Einführung der PrEP und sinkender Risikowahrnehmung geht auch die Kondomnutzung zurück.

Ursachen für den Anstieg
Die Gründe für den Anstieg sexuell übertragbarer Krankheiten sind vielschichtig. Einerseits gibt es eine veränderte Risikowahrnehmung: Viele Menschen, insbesondere jüngere, betrachten HIV nicht mehr als existentielle Bedrohung, was in Zeiten wirksamer Therapie nachvollziehbar, aber gefährlich ist. Daraus resultiert eine geringere Nutzung von Kondomen, obwohl diese auch gegen viele andere STIs Schutz bieten. Studien zeigen, dass insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene Kondome oft nur mit der Verhinderung von Schwangerschaft oder HIV assoziieren und andere STIs unterschätzen. 2014 haben noch 72% der Jungen und 68% der Mädchen im Alter von 15 Jahren, die sexuell aktiv sind, angegeben, Kondome zu benutzen. 2022 sind es nur noch 59% der Jungen und 58% der Mädchen.
Ein Großteil sexuell übertragbarer Infektionen verläuft asymptomatisch. Das heißt, Betroffene bemerken keine oder nur unspezifische Symptome und geben die Erreger unwissentlich weiter. Besonders Chlamydien, Gonorrhoe und auch frühe Stadien der Syphilis bleiben häufig unerkannt. Dies wird dadurch verstärkt, dass Tests in der Regel nur bei konkretem Verdacht, Symptomen oder innerhalb bestimmter Risikogruppen angeboten oder durchgeführt werden. Regelmäßige Screenings, etwa bei wechselnden Sexualpartner:innen, wären medizinisch sinnvoll, sind aber weder etabliert noch flächendeckend empfohlen oder bekannt. So entsteht eine gefährliche Diskrepanz zwischen tatsächlichem Infektionsgeschehen und diagnostizierter Realität, mit der Folge, dass die Dunkelziffer erheblich über den offiziellen Fallzahlen liegt.
Die Risikowahrnehmung ist deutlich vernachlässigt. 2019 wussten etwa nur 10% der Befragten, dass Hepatitis B sexuell übertragbar ist. Bei STIs treten häufig Missverständnisse und Mythen auf. Dadurch schätzen viele Menschen ihr persönliches Risiko, eine STI zu bekommen, deutlich geringer ein, als es tatsächlich ist. „Obwohl die Chlamydien-Infektion die häufigste bakterielle STI in der Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist, schätzen nur acht Prozent der Befragten ihr Risiko als (absolut) wahrscheinlich ein“, betont Johannes Breuer von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Zudem haben sich soziale Rahmenbedingungen verändert. Dating-Apps fördern anonyme, spontane sexuelle Begegnungen. Gleichzeitig steigt die Zahl von Menschen mit mehreren oder wechselnden Sexualpartnern, ohne dass dies in der Aufklärung adäquat thematisiert wird. Besonders problematisch ist dabei die asymptomatische Übertragung. Viele Infektionen bleiben unbemerkt und verbreiten sich weiter.
Auch die schulische Sexualaufklärung weist gravierende Lücken auf. Während Themen wie Schwangerschaftsverhütung oder HIV grundlegend behandelt werden, fehlen fundierte Informationen zu anderen STIs, zu Schutzmöglichkeiten, zu sexueller Gesundheit im weiteren Sinne und zu vielfältigen Beziehungs- und Lebensformen. Diese pädagogische Lücke trägt dazu bei, dass junge Menschen schlecht informiert sind, sowohl über Risiken als auch über Präventionsstrategien.

Regelmäßige Untersuchungen sind sowohl für Männer als auch Frauen wichtig © Pexels/cottonbro studio

Mögliche Prävention
Aufklärung spielt eine zentrale Rolle im Kampf gegen sexuell übertragbare Infektionen, doch wie diese Aufklärung aussehen sollte, darüber wird in Fachkreisen seit Jahren diskutiert. Viele Expert:innen betonen, dass der Verweis auf Kondome im Schulunterricht allein kaum ausreicht. Stattdessen sprechen sie sich für eine breiter angelegte Sexualpädagogik aus, die nicht nur gesundheitliche Risiken, sondern auch unterschiedliche Lebensrealitäten wie sexuelle Orientierungen, geschlechtliche Identitäten, Beziehungsformen und Fragen der Selbstbestimmung berücksichtigt.
Ein weiteres Element wirksamer Prävention liegt in der Zugänglichkeit von Tests. Viele Gesundheitsämter bieten kostenfreie und anonyme Testungen auf HIV, Syphilis, Chlamydien oder Gonorrhoe an, ein Angebot, das jedoch noch nicht flächendeckend bekannt ist. Auch Organisationen wie die Deutsche Aidshilfe leisten hier wertvolle Arbeit. Ärztliche Praxen könnten durch Routinehinweise auf Testmöglichkeiten zusätzlich zur Enttabuisierung beitragen.
Auch Impfungen gehören zur Prävention. Die HPV-Impfung wird heute für alle Jugendlichen empfohlen, erreicht aber längst nicht die von der WHO angestrebte Impfquote. Schulische Angebote oder niedrigschwellige Kampagnen könnten helfen, diese Lücke zu schließen. Und nicht zuletzt spielt der freie Zugang zu Schutzmitteln wie Kondomen eine Rolle. Die Einführung der HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) war ein bedeutender Fortschritt, doch auch hier sind noch Informationsdefizite und gesellschaftliche Vorbehalte spürbar.

Fazit
Sexuelle Freiheit ist eine Errungenschaft, aber sie bringt Verantwortung mit sich. Die steigenden Fallzahlen sexuell übertragbarer Krankheiten sind ein Warnsignal, das weder ignoriert noch individualisiert werden darf. Aufklärung, Prävention und medizinische Versorgung müssen mit gesellschaftlichen Realitäten Schritt halten. Der Blick zurück auf die AIDS-Krise der 1980er-Jahre zeigt, wie lähmend Ignoranz und Stigmatisierung wirken, aber auch, wie wirksam kollektives Engagement sein kann.
Wenn eine Generation sich sexuell freier bewegen kann als je zuvor, darf sie nicht schlechter geschützt sein als ihre Vorgänger:innen. STI-Prävention ist kein individuelles Defizit, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Es ist Zeit, sie ernst zu nehmen.

 

Fotonachweis Beitragsbild: Copyright pexels

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Alisa Guschker

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