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Stich ins Auge des Kapitalismus – Jason Hickel stellt das globale Wachstum in Frage

Jason Hickel

Der Kapitalismus steckt in schwierigen Zeiten. Hat er verdient, urteilen manche. Gründe für einen kritischen Blick auf ein global vorherrschendes System sind viele zu finden, vor allem aber bei Jason Hickel. Sein 2018 erschienenes Sachbuch „Die Tyrannei des Wachstums“ bietet eine konsequente Abrechnung mit dem omnipräsenten Wachstumsversprechen.

Wir sehen eine Welt und die ist entzweigerissen. Eine gängige Phrase und auch das Covermotiv von Jason HickelsBuch. Die große Nordkugel ragt dabei gefräßig über der Südhalbkugel. Was für die Fressenden Wachstum ist, ist für die Gefressenen Tyrannei. Und denen will Hickel seine Stimme leihen. Eine Kampfschrift also? Gerechtigkeitssuche mindestens.

Gegen die Gönner

Die Dringlichkeit seines Anliegens, die strukturellen und historisch vertieften Ungerechtigkeiten des Globalen Nordens gegenüber dem Globalen Süden herauszuarbeiten, lässt Hickel nie vergessen. Seine Abrechnung geht in die Breite, stützt sich auf Daten, hinterfragt aber auch deren Quellen. Sein Zugang bleibt hart, schnell, aber auch akribisch. Auf gut 400 Seiten erwartet man schließlich einiges und obwohl Hickel mit seiner breiten Perspektive an vielen Punkten kürzen muss,erhalten LeserInnenmassig Informationen und Denkansätze. Schließlich gilt es, große Zusammenhänge zu verstehen. Hickel als Anthropologe und Lehrer an der London School of Economics verbindet dabei Handfestes mit Philosophischem. Handfestes bereits im Titel des ersten Kapitels: „Der Entwicklungswahn“. Um die Kluft zu beschreiben, die Nord und Süd, Reich und Arm trennt, gilt es, ein Paradigma zu erfassen, das vielen noch unhinterfragt scheint: Jenes der guten Entwicklungshilfe wie man sie über Spendenaufrufe und Werbung nur allzu gut kennt. Die Leistung Hickels ist, dass er nicht nur Fakten beschreibt, sondern auch jene Ideologien und Denkmuster, die erst „Fakten“ schaffen. Bewusstseinsbildung transparent gemacht also. Im Falle der Entwicklungshilfe zeigt Hickel auf, dass man nicht von gutem Willen sprechen kann, vielmehr von Abschätzigkeit und Manipulation. Dem Entwicklungsparadigma liegt nämlich die Annahme zugrunde, dass Europa und die Länder Nordamerikas entwickelter seien als jene des Globalen Südens, der dem gegenüber als zurückgeblieben verbleibt, mit seinen vermeintlich falschen Werten und politischen Vorstellungen. Darauf gründet ein Wohlbefinden, das vielleicht so manchem besser bekannt sein dürfte, als er zugeben mag. Denn durch die Entwicklungshilfe erhalten die reichen Länder eine erhabene, quasi religiöse Position. „Diese neue Perspektive eröffnete ihnen den Zugang zu einer höheren, beinahe kosmologischen Mission. Die entwickelten Länder konnten sich als Leuchtfeuer der Hoffnung zeigen, als Retter der Bedürftigen. Sie würden ihnen die helfende Hand reichen, sie großzügig an ihren Reichtümern teilhaben lassen und so den ‚primitiven‘ Ländern des Globalen Südens dazu verhelfen, ihnen auf dem Weg zum Erfolg zu folgen.“ Die giftige Tonfall Hickels, der sich gegenüber jener Gönnerhaltung entlädt, entbehrt natürlich selbst nicht des Stolzes des Kritikers.

Echtes Leiden

Aber Jason Hickelhat Gründe. Denn während der Hunger weltweit immer weiter zunimmt, wirkt die Idee desEntwicklungsparadigmas immer weniger überzeugend. Fundamental anders gefragt: Vielleicht rührt die Armut gar nicht von natürlichen, strukturellen Gegebenheiten in den armen Ländern. Man ahnt esbereits: Die Entwicklungshilfe soll von etwas ablenken, genauer einer Schuld, die den „entwickelten Ländern“ eher anzulasten ist als jenen armen auf der Welt. Anhand von Statistiken kehrt Hickel heraus, dass das Geld, das die betroffenen Länder an Entwicklungshilfe erhalten, weit unter dem liegt, was diese an finanziellen Verlusten erleiden. Jene, die Entwicklungsgelder bewilligen, sind dabei ironischerweise oft jene, die Schulden eintreiben oder aggressiv Patentrechte einfordern, kurz: jene Länder, die das Beste aus dem Ungleichgewicht der Welt machen. Große Gönner wie die Gates Foundation schließen lebensrettende Medikamente über Patente weg, ein Global Player wie die Weltbank profitiert von der enormen Staatsverschuldung des Globalen Südens und Charity-Idol Bono genießt all das Geld, das er den armen Ländern über ein parasitäres Steueroasensystem nimmt. Das sind für sich genommen natürlich keine neuen Fakten. Hickel versteht es aber, diese auf schlüssige Weise einem Denkansatz gegenüberzustellen, der effektiv vor diesen Fakten schützt. So banal es also auch klingt, so sehr verbleibt es weiter in den Köpfen: Wer gibt, der kann doch gleichzeitig nicht nehmen! Eben doch. „Wie schon zu Trumans Zeiten dient Entwicklungshilfe als eine Art Propaganda, die die Nehmer als Geber darstellt und verschleiert, wie die globale Wirtschaft wirklich funktioniert.“ Wer damit aufräumen will, muss aus diesem Denken raus. Hickel praktiziert das mit seinem Buch auf vorbildliche Weise. Dabei ist sein Vorgehen durch und durch investigativ geprägt. Zunächst einmal nimmt er dezidiert die „Erfolge“ des Entwicklungsparadigmas auseinander. Präzise und mit kritischem Blick beweist Hickel, wie einfach man Statistiken manipulieren kann. Eben kein Problem, wenn man als stolzer Geber Armutsgrenzen sehr niedrig ansetzt oder Armutbekämpfungserfolge sanft in Zeiträume verschiebt, für die man eigentlich gar keine Verantwortung trägt. So weist man Erfolge vor, die bestätigen sollen, dass ein kapitalistisches Wachstumssystem mit seiner Gewinnmaximierung auch für die armen Länder immer etwas bieten kann. Oder: Gebe den Reichen und auch für die Ärmsten sickert noch genug durch. Die Trickle-down-Theorie, die man vor allem noch aus Thatchers Zeiten kennt, bester Neoliberalismus.

Bleibende Sklaverei

Die wirklichen Gründe für die globale Ungerechtigkeit, die wirkliche Tyrannei, sucht Hickel im Mittelteil seines Buches historisch auf, abseits all der Blendwerke einer modernen Entwicklungswirtschaft. Schließlich: „Die Entwicklungshilfeindustrie hat uns darauf gedrillt, in kurzen Zeiträumen zu denken.“ Dabei war Armut nicht immer mit dem Süden assoziiert. Um 1500 noch gab es nur wenige Unterschiede zwischen Europa und dem Rest der Welt, teils lag das Lebensniveau in Ländern wie Lateinamerika, Indien oder Asien sogar über dem von Europa. Aber das änderte sich, denn bekanntermaßen gab es da den Kolonialismus, den Hickel als eine Ursache des heute vorherrschenden Armutsspiegels der Welt deutet. Gerade die große industrielle Revolution war als kolonialistisch organisiertes „Outsourcing“ landintensiver Produktionen ein echter Erfolg und trieb die Länder des Südens einem beispiellosen Verfall durch Ausbeutung entgegen. Durch die Sklaverei wiederum erhielten die Vereinigten Staaten zwischen 1619 und 1865 222 Milliarden Stunden erzwungener Arbeit. Stoff, auf dem Weltreiche ruhen. Der Raub von Ressourcen, Land und Arbeitskräften ließ das große Wirtschaftswachstum Europas erst möglich werden. Aber auch innerhalb Europas fanden entsprechende Enteignungen statt. Im England des 18. und 19. Jahrhunderts wurde gemeinschaftlich genutztes Land im großen Stil von Kleinbauern genommen und in die industrielle Massenproduktion eingebunden. Diese „Enclosure“-Bewegung, die schon im Mittelalter begann, kannte viele Aufstände, schließlich aber auch viele Tote, Flüchtlinge und, wie man weiß, verarmte Landarbeiter in den großen Fabrik- und Industriemetropolen. Das Wachstumsrezept Großbritanniens: „Es waren diese drei Kräfte – Akkumulation von Wohlstand, massenhafte Vertreibung von Kleinbauern und die Schaffung eines Verbrauchermarktes –, welche die internen Voraussetzungen für die industrielle Revolution schufen. Die externen Voraussetzungen hatten […] mit der Kolonisierung von Amerika und dem Sklavenhandel zu tun.“ Es ist schwer, den bissigen Zynismus Hickels angesichts der Reihung perverser Ungerechtigkeiten nicht mitzudenken. Guter Empath, der er ist, weiß Hickel genau, wann die Faktenlage schwerwiegend genug ist, um die Wut über wenige Worte zu ballen. Entsprechend lautet eine Kapitelüberschrift: „Wie Großbritannien die Länder Asiens unterentwickelte“.

Schließlich war für eine schrankenlose, rücksichtslose Wirtschaft die Öffnung aller Länder notwendig. Ein Land wie China, das sich wohlweißlich dem Weltmarkt verweigerte, wurde mit den Opiumkriegen schließlich dazu gezwungen und wirtschaftlich niedergerungen. Die Kolonialzeit Indiens bietet einen weiteren Beleg für die erzwungene, neue „freie“ Marktwirtschaft und ein gutes Beispiel für das, was Globalisierung schon früh bedeutete. Als diese Zeit wiederum eine Kehrtwende erfahren sollte, mit progressiven Denkern wie Mahatma Gandhi, Marcus Garvey sowie einem neuen Entwurf für eigene, selbststärkende Volkswirtschaftenin den ehemals armen Länder des Globalen Südens, wussten die reichen Länder richtig zu intervenieren. Putsche und Militärdiktaturen legen davon ein erschreckendes Zeugnis ab, das Hickel im Kontrastverfahren nur zu gerne demonstriert. Das erfolgreiche Wirtschaftswachstum durch die Etablierung einer gerechten inländischen Wirtschaftspolitik in den Ländern des Globalen Südens steht totaler Verarmung, Mord und Korruption gegenüber – Dinge, die den Staatsstreichen in Ländern wie Kongo, Chile, Ghana, Iran oder Brasilien unverzüglich folgten. Wohlstand auf Kosten ausgebeuteter Länder auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ein wesentlicher Grundstein für die bis heute bestehende Armut. „Die westlichen Mächte haben unzählige Versuche, echte Unabhängigkeit zu erreichen, vereitelt, was ein ziemlich ironisches Licht auf das historische Image des Westens als leuchtendes Vorbild für Demokratie und Volkssouveränität wirft.“

Als auch diese Phase ein Ende fand, sahen sich die gebeutelten Länder als arm und nahmen gerne oder mit Zwang Kredite auf, um in der entfesselten Weltwirtschaft Stand halten zu können. Strukturanpassungsprogramme durch den Internationalen Währungsfond (IWF) sollten ihnen schließlich dabei helfen, die Schulden auch wieder zurückzuzahlen. Massiver Sozialabbau, wie man ihn vor wenigen Jahren auch in Griechenland beobachten konnte. So gelang es den Geldgebern, erneut Kontrolle über die Wirtschaftspolitik der nunmehr längst wieder armen Länder zu erhalten und diese dem neoliberalen Credo der Gewinnmaximierung zu unterwerfen. „Es wurde ihnen eine ‚Rück-Entwicklung‘ im Namen der Entwicklung aufgezwungen.“ Wer sich geweigert hätte, hätte sich der Gefahr eines Militärputsches, etwa durch die USA, ausgesetzt, der natürlich auch eine wirtschaftliche Öffnung des Landes erzwungen hätte.

Die Laune der LeserInnen dürfte sich während der Lektüre kaum bessern, schließlich führt Hickel die Ausbeutung der Länder des Globalen Südens in allen Phasen und bis heute vor. Schließlich besteht der Neoliberalismus noch immer und buhlt um ein Bruttoinlandprodukt, das kaum im Interesse bedürftiger Menschen sein kann. Dumpingpreise für Landwirtschaft, erzwungene Sexarbeit oder die Verweigerung von Patentmedizin für AIDS-Kranke in Afrika sind harsche Folgen einer gewinnorientierten Politik. Steuerhinterzieher, Landräuber, Klimaverächter verstärken die grässlichen Folgen bis heute und vermutlich bis weit in die Zukunft. Die mächtigen Konzerne wie IWF und Weltbank bleiben indes immun, die gebeutelten Länder sind in Gremien und Räten unterrepräsentiert, Absprachen der echten Player finden in Nebenzimmern statt. Die Kluft zwischen Arm und Reich zieht sich überall hindurch und berührt alle Ebenen. Man ist ja auch erstaunt, wie gut alles aufeinander abgestimmt ist, wie absolut die Verweigerung eines gerechten Lebensstils. Man kann den Zorn Hickels verstehen.

Wenige Lösungen für die Misere

Nur will man auch verstehen, was Hickel für Lösungen hat. Angesichts der vernichtenden, historisch fundierten Ungerechtigkeiten können seine Hypothesen aber nur enttäuschen. Auf lediglich 70 Seiten sucht Hickel nach neuen Möglichkeiten, die Kluft durch Gerechtigkeit zu schließen, falsche Wohltätigkeit soll dabei bloß vergessen werden. Aber auch hier rutscht er immer wieder unstet in ein Konstatieren weiterer negativer Entwicklungen ab, als wäre sein eigener Glaube doch etwas unsicher, als wären seine Lösungen freundliches Schulterklopfen für einen geschändeten Leichnam. Vor allem bleibt Wut: „Würde die US-Regierung die globale Armut wirklich ausmerzen wollen, sollte sie vielleicht, statt Entwicklungshilfe zu zahlen, die Strukturanpassungsprogramme beenden, gegen die weit verbreitete Steuervermeidung vorgehen und unfaire Handelsgesetze abschaffen – drei der führenden Ursachen für Armut überhaupt.“ Immerhin begeht Hickel den Fehler nicht, seinen Untersuchungsgegenstand vorher nicht ausreichend konturiert zu haben, nur bleiben seine konstruktiven Änderungsvorschläge eher Appell, Ideenwerkstatt, Diskursgrundlage als durchdachtes Gegenmodell: „Die unerlässliche Verrücktheit der Fantasie“. Aber vielleicht ist es auch nur der Durst der LeserInnen nach mehr Hoffnung bei all der beeindruckend niederschlagenden, scharfen Betrachtung. Der Riss bleibt erst einmal bestehen.

Jason Hickel, Die Tyrannei des Wachstums, dtv München 2018.

Bildquellen

  • Badischer Kantorenchor Sonntag Kantate 10.05.20: Badischer Kantorenchor Sonntag Kantate, promo
  • Jason Hickel©GuddiSingh_5815: ason Hickel © Guddi Singh