Im Gespräch: Bernhard Schmidt, Leitung John Sheppard Ensemble
Seit zehn Jahren leitet Bernhard Schmidt das John Sheppard Ensemble. Auch als Mitbegründer des Vereins „Chorstadt Freiburg“ ist der Saarländer in der Freiburger Chorszene präsent. Georg Rudiger hat sich mit ihm unterhalten über Gärtnern in der Pandemie, Sphärenmusik in der Kirche und Lobbyarbeit in der Stadt.
Kultur Joker: Unser Gespräch sollte eigentlich im Februar 2020 stattfinden zum 25-jährigen Jubiläum des John Sheppard Ensembles. Aber dann kam die Corona-Pandemie, die für viele Chöre zu einer existenzbedrohenden Krisenzeit wurde. Wie haben Sie persönlich diese Zeit erlebt?
Bernhard Schmidt: Zu Beginn der Pandemie hat sich die Situation für mich existentiell bedrohlich dargestellt, aber es war dann relativ schnell klar, dass die Überbrückungshilfen des Staates die finanzielle Notlage abfedern würde. Das hat zumindest mir die Existenzangst genommen. Und nach ein paar Wochen habe auch ich große Erleichterung empfunden, einmal aus dem täglichen Hamsterrad zu entkommen und die Zeit mit anderen Dingen zu füllen: Gärtnern, Wandern, Bücher lesen, Patisserie. Aber auch, um grundsätzlich darüber nachzudenken, was man künstlerisch ausprobieren könnte.
Kultur Joker: Wie haben Sie diese Pandemiejahre, in denen für Chöre starke Restriktionen galten, mit dem John Sheppard Ensemble gestaltet?
Schmidt: Wir haben, wann immer es möglich war, etwas gemacht. Wir haben digital geprobt und uns bei jeder Lockerung der Vorschriften in kleinen Gruppen getroffen: im Lorettobad um das Becken herum, in der Reithalle in Ebnet. Im Oktober 2020 gaben wir im Regen ein Open-Air-Konzert im Seepark mit zwei Metern Abstand zwischen den Sängerinnen und Sängern und maximal 100 Besuchern. Dafür haben wir wochenlang bei fünf städtischen Ämtern gekämpft. Im Sommer 2021 veranstalteten wir ebenfalls im Freien ein Konzert der Sinne, bei dem die Besucher riechen, schmecken und tasten durften. Auch ein Weihnachtskonzert haben wir im Januar 2022 gegeben – mit Maske noch in der Ansingprobe, zwei Metern Abstand, 2G-Plus und Security.
Kultur Joker: Sie dirigieren nun den Chor seit zehn Jahren, was mit einem besonderen Jubiläumsprogramm gefeiert wird. Wie hat sich der Chor verändert in dieser Zeit und wo steht er heute?
Schmidt: Die stärkste Veränderung ist sicherlich die Zahl und Taktung der Projekte. Als ich den Chor im Jahr 2013 vom Gründer Johannes Tolle übernommen habe, machte das Ensemble in der Regel zwei Programme pro Jahr: ein oratorisches Werk und ein A-Cappella-Projekt mit insgesamt zwei bis drei Konzerten. Wir haben dann recht schnell die Zahl auf drei Projekte mit deutlich mehr Konzerten erhöht. Im letzten Jahr hatten wir insgesamt zwanzig Auftritte inklusive Konzertreise, Landeschorwettbewerb und Mehrklang Freiburg. Wir nehmen regelmäßig an Wettbewerben teil und sind zu Gast in Konzertreihen außerhalb von Freiburg. Auch die Formate haben sich verändert durch die Mitsingkonzerte und unsere Elemente-Reihe mit Videoinstallation. Letztes Jahr hatten wir für eine Aufnahme eine Kooperation mit der Progressive Rock Band Surrillium. Auch in den sozialen Medien sind wir natürlich aktiver geworden. Wir versuchen, uns stilistisch breit aufzustellen und möglichst viele Menschen zu erreichen – auch an ungewöhnlichen Orten.
Kultur Joker: Im Gegensatz zu den meisten Freiburger Chören verzichten Sie fast ganz auf die bekannten, meist gut besuchten Oratorien, Passionen und Messen. Warum machen Sie einen Bogen um das Standardrepertoire?
Schmidt: Ich finde es nicht so interessant, das zu machen, was sowieso schon alle anderen machen, zumal es genügend großartige Musik abseits der ausgetretenen Pfade gibt. Unser Publikum weiß diese Neugier zu schätzen. Hin und wieder singen wir auch Repertoirestücke wie Motetten von Johann Sebastian Bach oder Max Reger, aber diese stellen wir dann in einen neuen Zusammenhang.
Kultur Joker: Wie können Sie das finanzieren, ohne mit bekannten Werken auch das breite Publikum anzulocken?
Schmidt: Unsere Konzerte werden immer besser besucht – vor zehn Jahren haben wir ein A-Cappella-Programm auch mal vor 40 Zuhörern gesungen. So wenig Publikum hatten wir schon lange nicht mehr. Unsere Weihnachtskonzerte sind immer ausverkauft. Auch die beständige Erhöhung unserer Projektförderung durch die Stadt Freiburg und das Land Baden-Württemberg sehen wir als Bestätigung unseres künstlerischen Weges.
Kultur Joker: Neben Ihrer Tätigkeit als Dirigent sind Sie auch als Funktionär und Ausbilder in der Chorszene unterwegs. In Freiburg haben Sie 2018 den Verein „Chorstadt Freiburg e.V.“ mitgegründet, um die Chöre besser miteinander zu vernetzen und auch gegenüber der Politik sichtbarer zu machen. Sie wollten auch von der Stadt einen zentralen Ort zur Verfügung gestellt bekommen, wo Chöre proben können. Hatten Sie Erfolg damit?
Schmidt: Nein. Die Idee des Freiburger Chorhauses ist eine sehr langfristige Idee. Dafür müssen sich die Chöre untereinander noch besser abstimmen und natürlich die Lobbyarbeit verstärken. Zunächst brauchen wir ein Chorbüro, in dem professionelle Kräfte unterstützend für die Chöre arbeiten und ihnen in Sachen Fundraising, Marketing und Organisation unter die Arme greifen. Wir sind in vielen kleinen Einheiten organisiert, fast alle ehrenamtlich. Wenn man sieht, welche Szenen es geschafft haben, Dinge in der Stadt auf die Beine zu stellen – siehe Tanzhaus, siehe Literaturhaus, siehe Popbeauftragter – dann waren das kleine, aber sehr schlagkräftige Einheiten.
Kultur Joker: Im Jahr 2021 hat „Chorstadt Freiburg“ eine Evaluation der Freiburger Chöre durchgeführt. Was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse?
Schmidt: Wir haben in Freiburg 10 000 Menschen, die regelmäßig in Gruppen 90 Minuten oder mehr singen – was knapp 4 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Wenn man aber sieht, wie wenig Geld die Stadt Freiburg für diese vergleichsweise große Gruppe ausgibt, dann ist das ein enormes Missverhältnis. Das sichtbar zu machen, ist unsere Aufgabe. Und der Stadt bewusst zu machen, was sie von einer Chorförderung hat. Jeder Euro, den die Stadt für die Chöre ausgibt, fließt mit dem Faktor 1,7 wieder in die Stadt zurück – in Form von Steuern, Ausgaben für Bühnentechnik, Webdesign, Catering, Hotellerie und vieles mehr. Außerdem war für uns überraschend, wie jung die Szene ist.
Kultur Joker: Wie jung ist sie denn?
Schmidt: In der öffentlichen Wahrnehmung wird Chorsingen meist als Hobby älterer Menschen wahrgenommen. In der Gruppe der Kinder- und Jugendchöre, die laut Bundesjugendplan die Altersgruppe zwischen 6 und 26 Jahren umfasst, liegt der Anteil an der Gesamtbevölkerung bei beachtlichen 10 Prozent. Das waren auch die Gruppen, die während der Coronapandemie durch Schulschließungen und Singverbote am meisten betroffen waren. Das Niveau des Chorgesangs ist deshalb an vielen Schulen deutlich abgesunken, berichten uns viele Musiklehrer.
Kultur Joker: Neben der Freiburger Chornacht, die seit 2016 stattfindet, hat der Verein 2022 erstmals das Chorfestival „Chorwärts“ veranstaltet, das 2200 Sängerinnen und Sänger und 63 Chöre an einem Wochenende auf Bühnen in der Stadt und in Kirchen brachte. Wie haben Sie das Festival erlebt?
Schmidt: Schöner, als man es sich hätte erträumen können. Das Festival war drei Tage komplett gut besucht auf allen Bühnen.
Kultur Joker: Mit dem siebenstündigen Werk „The Veil of the Temple“ von John Tavener, an dem alleine zehn Chöre beteiligt waren, gab es auch künstlerisch ein außergewöhnliches Projekt, das von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang in der Martinskirche durchgeführt wurde. Hat das Ergebnis den großen Aufwand gerechtfertigt?
Schmidt: Absolut, ich würde das sofort wieder machen. Besucher sind abends mit Schlafsack und Trekkingausrüstung in die Kirche gekommen, haben sich irgendwann zum Schlafen ins Seitenschiff gelegt und sind morgens mit Gesang und strahlenden Gesichtern aufgewacht. Wir hatten viele Zuhörerinnen und Zuhörer, die noch nie zuvor in einem Chorkonzert waren. Selbst die Partypeople haben gegen zwei Uhr nachts vorbeigeschaut und ruhig den meditativen Klängen gelauscht. Schön war auch, dass so viele Chöre etwas zusammen singen konnten. Zum Finale standen wir mit fünf Chören und fünf Dirigenten da, die die verschiedenen Parts angeleitet haben.
Kultur Joker: Wie geht es weiter mit der Chorstadt Freiburg?
Schmidt: Wir hatten gerade ein Thinktank-Wochenende, um Prioritäten festzulegen – Ideen gibt es viele. Über das Chorbüro haben wir ja schon gesprochen. Damit würden bei den Ehrenamtlichen viele Energien frei werden, die wiederum in kreative Arbeit gesteckt werden könnten. Für das Jahr 2025 soll eine neue Ausgabe des Festivals „Chorwärts“ geplant werden, die Freiburger Chornacht findet weiterhin jedes Jahr statt. Auch werden andere Formate diskutiert wie ein Festival für Kinder- und Jugendchöre oder niedrigschwellige Open-Air-Angebote wie „Waldweben“, wo wir während der Pandemie auf Waldlichtungen gesungen haben.
Kultur Joker: Die beiden Konzerte zu ihrem 10-jährigen Jubiläum als Dirigent des John Sheppard Ensembles am 13. und 14. Mai stehen unter der Überschrift „Music of the Spheres“. Was erwartet den Zuhörer da?
Schmidt: Der Titel ist mehrdeutig. Zum einen geht es tatsächlich um die physischen Sphären. Das Konzert geht vom 40-stimmigen „Spem in alium“ von Thomas Tallis aus, in dem vier Chöre von vier verschiedenen Himmelsrichtungen um das Publikum herum singen. Auch für die Fantasia von Ralph Vaughan Williams werden die drei Instrumentalensembles im Raum verteilt. Zum anderen fragen wir, wie Musik auf Erden klingt und wie wir uns vorstellen, dass sie im Himmel tönt. Zu diesem Thema halten Pater Thomas Gabriel Brogl und ich am 4. Mai um 19.30 Uhr in der Kirche St. Martin einen Einführungsvortrag mit Klangbeispielen, die der Chor live singen wird.
Kultur Joker: Herr Schmidt, vielen Dank für das Gespräch. Ihnen und dem John Sheppard Ensemble weiterhin alles Gute.
Konzerte „Music of the Spheres“: Samstag, 13. Mai 2023, 19 Uhr, Martinskirche Freiburg. Sonntag, 14. Mai 2023, 19 Uhr, Herz-Jesu-Kirche Freiburg. Einführung mit Pater Thomas Gabriel Brogl und Bernhard Schmidt am Donnerstag, 4. Mai 2023 um 19.30 Uhr in der Martinskirche Freiburg. sheppardensemble.de
Bildquellen
- Bernhard Schmidt: © Ellen Schmauss