Der „Widerstand der Ästhethik“ – über das Wirken des Schriftstellers Peter Weiss
Im Gespräch: Der Historiker Werner Schmidt
Das Werk des Schriftstellers und Intellektuellen Peter Weiss (1916 – 1982) ist mit der Geschichte einer ganzen Epoche verflochten und hat die literarischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit entscheidend mitgeprägt. Zuletzt wurde sein Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ theatralisiert, der nun, zum 100. Geburtstag von Peter Weiss, erstmals in einer textkritischen Ausgabe erscheint. Des Weiteren hat der in Stockholm emeritierte Historiker Werner Schmidt eine Biographie geschrieben, die sich auf unbekanntes Material stützen kann. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat den Autor befragt.
Bei Potsdam geboren, war Peter Weiss mit seiner Familie 1934 zunächst nach England emigriert und dann in die Tschechoslowakei. 1937/38 beginnt er in Prag Kunst zu studieren und hält sich einige Zeit bei Hermann Hesse in Montagnola auf, bevor er ins Exil nach Schweden flieht.
Peter Weiss machte Erfahrungen, die ihn zu dem prägnanten Satz führten: „Das geschriebene Wort ist die gefährlichste aller Kunstarten“. Politischer Zeitbezug und ästhetische Radikalität greifen bei ihm auf einzigartige Weise ineinander, weshalb seine Theatertexte auf deutschen und fremdsprachigen Bühnen weiterhin häufig inszeniert werden, darunter „Die Ermittlung“ und „Marat / Sade“. .
Kultur Joker: Peter Weiss wendet sich wie kaum ein anderer Schriftsteller gegen die Verdrängung der NS-Zeit in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, der er mit den Mitteln der Literatur und des Theaters eine hartnäckige Erinnerungs- und Trauerarbeit entgegensetzt. Auf welche Schwierigkeiten stößt er?
Werner Schmidt: Weiss schrieb „Die Ermittlung“, sein Stück über den Auschwitz-Prozess 1963/64 in Frankfurt, in einer Zeit, als in der Bundesrepublik der Versuch unternommen wurde, eine Verjährungsfrist für NS-Verbrechen durchzusetzen. Bei seinen Reisen aus seiner neuen Heimat Schweden in das Land, das ihn einst vertrieben hatte, musste Weiss feststellen, dass Verhaltensweisen, die zu seiner Vertreibung geführt hatten, immer noch lebendig waren. Über diese schmerzlichen persönlichen Erfahrungen schrieb er das Stück „Inferno“.
Kultur Joker: Auschwitz bezeichnete er als „meine Ortschaft“, „eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam“. Wie kommt er dazu?
Werner Schmidt: Der Verleger Klaus Wagenbach bat 1964 mehrere deutschsprachige Autoren, über den für sie wichtigsten Ort zu schreiben. Die meisten Beiträge schilderten Orte der Kindheit oder Jugend. Peter Weiss wollte über seinen Geburtsort Nowawes (heute Neubabelsberg) schreiben. Doch nach seinem Besuch im KZ Auschwitz im Dezember 1964, konnte er darüber nicht mehr schreiben, auch nicht über Bremen oder Berlin, wo er aufgewachsen war, nicht über die anderen Stationen London, Prag oder Stockholm. Keinen dieser Plätze hat er für Wert befunden, „einen festen Punkt in der Topographie meines Lebens zu bilden“. Stattdessen wählte er Auschwitz für seinen Essay „Meine Ortschaft“. Diese Wahl zeigt, welche Bedeutung er seiner „conditio iudaica“ zuschrieb. Sie war ein weiter wirkender Bestandteil seiner Existenz und eine Triebkraft seines Schreibens.
Kultur Joker: Der Dramatiker Peter Weiss, der sich auch an Brechts Theaterschriften orientiert, gilt als Erfinder des „dokumentarischen Theaters“, wofür besonders sein Stück „Die Ermittlung“ steht. Warum verweigert es sich einfachen Interpretationen?
Werner Schmidt: Zur Beantwortung dieser Frage scheint es mir notwendig, zuerst den von Ihnen benutzten Begriff der „Trauerarbeit“ zu problematisieren, da er rückwärtsgewandt aufgefasst werden kann. Peter Weiss‘ Beschäftigung mit der NS-Zeit und dem Auschwitz-Komplex ist aber vor allem nach vorne, in eine anzustrebende andere Zukunft gerichtet. Seiner Meinung nach fehlte z.B. in Hannah Arendts Reflexionen über Auschwitz, trotz aller Verdienste, ein Aspekt, der für ihn selbst wesentlich war. In Arendts Denkgebäude verschwinden oft die historisch-konkreten Bedingungen, die eine Verhaltensweise, die sie als ‚Normalität‘ bezeichnet, erst ermöglichen oder fördern. Als Weiss das Stück „Die Ermittlung“ konzipierte, ging er von der Maxime aus, dass eine praktikable Wahrheit (im Sinne Brechts) über ‚Auschwitz‘ jene Ursachen des Phänomens freilegen muss, die veränderbar und vermeidbar sind. Erst wenn die Ursachen erkannt sind, kann Wiederholung verhindert werden. Für Weiss verlöre ein Stück über Auschwitz seinen Sinn, würde es über die gesellschaftlich veränderbaren Bedingungen schweigen.
Kultur Joker: Peter Weiss reibt sich in der gespaltenen Welt des Kalten Krieges auf, mit seiner Kritik an der BRD und DDR, am Vietnamkrieg der USA und der Salazar-Diktatur in Portugal; er bezeichnet sich als ein von der „Zweifel-Krankheit“ befallener Beobachter. Wie ging sein Versuch aus, mit den Mitteln der Literatur gesellschaftlich einzugreifen?
Werner Schmidt: Im September 1965, kurz vor der Uraufführung der „Ermittlung“, nahm Weiss mit „10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt“ Stellung für die sozialistische Seite dieser geteilten Welt. Wie der Titel andeutet, war es die Stellungnahme des „Autors“ Peter Weiss, d.h., er kam durch seine literarische Arbeit – und besonders durch seine autobiografisch motivierte Beschäftigung mit dem Faschismus – zu dieser Standortbestimmung. Während für ihn in den kapitalistisch geprägten Gesellschaften die Strukturen noch virulent sind, die unter bestimmten historischen Bedingungen ‚Auschwitz‘ möglich gemacht hatten und möglich machen können, glaubte er, dass allein der Sozialismus – perspektivisch – zu einer Lebens- und Verhaltensweise führen könnte, die ein neues ‚Auschwitz‘ verhindern. (…) Doch musste er bald erfahren, dass ein undogmatischer Meinungsaustausch mit den „positiven Kräften“ im Osten unmöglich war. Nachdem er 1970 „Trotzki im Exil“ geschrieben hatte, wurde er plötzlich zu einer „persona non grata“. Die DDR verhängte ein zeitweiliges Einreiseverbot über ihn. Die „Trotzki-Niederlage“ führte dazu, dass Weiss im Juni 1971 einen Herzinfarkt erlitt; die negativen Erfahrungen mit der östlichen Front des Kalten Kriegs implizierten jedoch keine Aussöhnung mit dem Kapitalismus. Der Versuch, mit literarischen Mitteln in die Gesellschaft einzugreifen, ist mit Weiss‘ Tod nicht beendet, sondern wirkt in seinem Werk und dessen heutiger Rezeption fort.
Kultur Joker: Zwischen 1971 und 1981 schreibt Weiss sein Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“; angesiedelt ist es in der Zeit von 1936 bis 1945, Handlungsorte sind Berlin während der NS-Herrschaft, Spanien im Bürgerkrieg, Paris vor dem Zweiten Weltkrieg und Stockholm als Ort des Exils. An welchen realen Persönlichkeiten orientiert sich der Roman?
Werner Schmidt: Da sind zunächst die beiden Freunde des Ich-Erzählers Hans Coppi und Horst Heilmann zu nennen, die der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ angehörten und 1942 in Plötzensee hingerichtet wurden; dann der Sozialarzt, Psychiater und Sexualpädagoge Max Hodann aus Berlin, den Weiss im schwedischen Exil kennenlernt. Wenn von „Orientierung“ gesprochen werden kann, so gilt das vor allem für die genannten Persönlichkeiten. Doch zu nennen wären noch Mitglieder der Internationalen Brigade in Spanien, Teilnehmer des kommunistischen Widerstands, wie z.B. Herbert Wehner, Willi Münzenberg, Otto Katz und Karl Mewis, aber auch die Schriftsteller Bert Brecht und Karin Boye. Ein wichtiges Kriterium der Figurenauswahl war deren Funktion im Hinblick auf die Gestaltung des Ich-Erzählers, dem sie nämlich politische oder literarische Standpunkte nahebringen, die ihn beeindrucken, die er verarbeitet und – früher oder später – in sein Bewusstsein aufnimmt oder verwirft.
Kultur Joker: Peter Weiss bindet in sein Epos „Die Ästhetik des Widerstands“, das als monumentale Erinnerungsarbeit und „Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt, über hundert Beschreibungen von Kunstwerken ein, aus Bildender Kunst, Literatur, Musik und Mythologie. Diese werden von den Protagonisten des Romans rezipiert, mit welcher Absicht?
Werner Schmidt: Der ursprüngliche Titel des Romans war „Der Widerstand“ und sollte vor allem vom Widerstand deutscher Antifaschisten in Schweden handeln. Doch dann änderte er den Titel in „Die Ästhetik des Widerstands“, der ihm geeigneter schien für sein Thema. Hauptgegenstand des Romans ist nicht mehr nur der antifaschistische Widerstand oder Widerstand an sich, sondern die Ästhetik des Widerstands oder eine widerständige, „kämpfende Ästhetik“. Der Titel spiegelt nach Weiss „das paradoxe, vielschichtige Wesen dieses Romanberichts“ wider, bei dem es um den Widerstand gegen Unterdrückungsmechanismen geht sowie um „den Versuch zur Überwindung einer klassenbedingten Aussperrung von den ästhetischen Gütern“, deren Aneignung für die Formierung einer Widerstandshaltung fruchtbar gemacht werden kann. Dabei soll der Begriff der Ästhetik auch den Versuch umfassen, „die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen und politischen Einsichten zu verbinden“. Will man das Anliegen des Romans, das Weiss mit dem neuen Titel auszudrücken versucht, zusammenfassen und dabei die Rolle der Kunstrezeption berücksichtigen, die als kommunikativer Vorgang verstanden wird, dann kann man sagen, dass es in der „Ästhetik“ um diesen doppelten Prozess geht: um die Formierung von widerständiger Handlungsfähigkeit bei gleichzeitiger Formierung eines kohärenten widerstandsfähigen Subjekts.
Kultur Joker: Für Peter Weiss waren Wort, Bild, Musik und filmische Bewegung verbunden. Warum sagt er dennoch von sich, die Triebkraft seiner künstlerischen Arbeit bilde das „In-Gegensätzen-Denken“?
Werner Schmidt: Für Weiss waren zwar Wort, Bild, Musik und filmische Bewegung untrennbar verbunden, doch entschied er sich schließlich für das Wort, für die Schriftstellerei. Warum? In seiner Bildkunst, sagte er, war er an eine bestimmte Grenze gestoßen. Eine Bildfläche konnte zwar Perspektiven nach zahlreichen Richtungen hin aufweisen, die gemalten Formen konnten sich aus Widersprüchen zusammensetzen, zu sehen war aber immer nur „die Schlusswirkung des Dramas“. Worte dagegen enthalten Fragen, bezweifeln die Bilder, umkreisen deren Bestandteile und zerlegen sie. „Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.“ Das Schreiben bewegt sich in der Zeit. Satz stößt auf Gegensatz, Frage auf Antwort, Antwort auf neue Frage. Behauptetes wird widerrufen, Widerrufenes wird neuen Bewegungen unterzogen. Der Schreibende und Lesende ist ständig offen für Veränderungen. Das „In-Gegensätzen-Denken“ ist bei Weiss untrennbar mit seiner oben genannten „Zweifelskrankheit“ verbunden. (…) In seinem Tagebuch „Rekonvaleszenz“, das er nach seinem Herzinfarkt führte, dokumentiert er seinen eigenen inneren Monolog, bei dem er Rede und Antwort steht, für jedes angeführte Argument und Gegenargument. (…) Fast jede seiner Äußerungen erscheint ihm „anfechtbar“. Dies führt dazu, dass er die inneren Monologe in „Rekonvaleszenz“ manchmal als „unerträgliche Zerreißproben“ erlebt. Bei der Übertragung der Monologe in die dialogische Form eines Dramas verlieren diese ihre Unerträglichkeit, ohne dass ihre innere Spannung verloren ginge. In seinem Stück „Hölderlin“, das er gleichzeitig schrieb, werden die in ihm selbst „verwurzelten Gegensatzpaare“ auf eine Vielzahl von Sprechern übertragen, die „die für mich unlösbare Problematik in verteilten Rollen aufnehmen und prismatisch beleuchten“.
Kultur Joker: Herr Professor Schmidt, was hat Sie zu dieser umfangreichen Recherche- und Biographiearbeit bewegt?
Werner Schmidt: Mich hat an Peter Weiss seine Haltung als kritischer Intellektueller beeindruckt. Ich möchte hier Christa Wolfs Urteil über ihn zitieren, mit dem ich meine Biografie abschließe. Auf die Frage, was von Peter Weiss bleiben wird oder bleiben sollte, antwortete sie: „Bleiben sollte „diese intensive und nicht nachlassende Wahrheitssuche als Haltung“, die natürlich nie ganz frei von Irrtümern ist, die aber die Irrtümer immer wieder überwinden kann und die vor allen Dingen sich selbst einbezieht in den Prozess der Wahrheitsfindung und sich als Autor und Intellektueller dabei mitverändert. „Das ist eine Haltung“, betont Christa Wolf, „die ich einfach zeitgemäß finde, zukunftsgemäß“.
Kultur Joker: Herr Schmidt, wir bedanken uns für das Gespräch.
Literatur:
Werner Schmidt. Biographie Peter Weiss. 450 Seiten. Suhrkamp 2016
Peter Weiss. Die Ästhetik des Widerstands. 1199 Seiten. Suhrkamp 2016
Bildquellen
- kulturjoker_peter_weiss_interview_werner_schmidt: Peter Weiss © Andrej Reiser/ Suhrkamp Verlag