Karl Marx als ökologischer Humanist: Zum Buch von Heinrich Detering – „Die Revolte der Erde“
Bereits in der Doppelnummer Dezember/Januar 2023-24 wurde im Kultur Joker der damalige Spiegel-Bestseller „Systemsturz“ des japanischen Philosophen Kohai Saito
Bereits in der Doppelnummer Dezember/Januar 2023-24 wurde im Kultur Joker der damalige Spiegel-Bestseller „Systemsturz“ des japanischen Philosophen Kohai Saito rezensiert. Auf Basis von umfangreichen, bis dahin weithin unbekannten Notizbüchern, Exzerptheften und Briefwechseln von Karl Marx und deren akribischer Auswertung ermöglichte Saito einen völlig neuen Blickwinkel auf die Entwicklung von dessen Kapitalismusanalyse, auf seine breitgefächerten naturwissenschaftlichen Studien und seine darauf aufbauenden Erkenntnisse zum Verhältnis Mensch und Natur allgemein und speziell zwischen Kapitalismus und Natur. Dadurch wurde das in der klassischen Marx-Rezeption dominierende Bild des ausschließlich kühl rechnenden politischen Ökonomen und eines Befürworters der ungezügelten Entwicklung der Produktivkräfte nachhaltig erschüttert. Seitdem schlagen international die Wogen der ideologischen Auseinandersetzung zwischen orthodoxen Marxisten und Neuinterpreten hoch.
Aktuell hat nun Saitos Wegbereitung eine gewichtige Untermauerung erfahren: Der mit zahlreichen bedeutenden Preisen ausgezeichnete und mit verschiedensten Lehrstühlen und
-aufträgen bedachte Literaturwissenschaftler Heinrich Detering kommt in seinem Buch „Die Revolte der Erde“- Karl Marx und die Ökologie – zu ähnlichen Ergebnissen, freilich auf anderem Wege. Detering urteilt selbst, dass „der wissenschaftliche Ort dieser Studie weder die Philosophie noch die politische Ökonomie, sondern die Literaturwissenschaft“ sei. Und diese Studie hat es wahrlich in sich.
Gleich am Anfang seiner Einführung ins Buch erinnert Detering an den 1948 von Josef Stalin proklamierten „Großen Plan zur Umgestaltung der Natur“, den der Schriftsteller Maksim Gorkij seinerzeit als den „Sieg der Vernunft über die Kräfte der Natur“ feierte. In Wirklichkeit bedeutete die praktische Umsetzung dieses Plans eine dilettantische Vergewaltigung der Natur mit Hungersnöten und ökologischen Katastrophen als Folge, die bis hin zu regionalen Ökoziden führten. Die Fehlschläge wurden den damit beauftragten Menschen angelastet und in Schauprozessen und Konzentrationslagern geahndet. All dies geschah damals in der Propaganda der KPdSU unter Berufung auf Marx bzw. den „Marxismus“. Zu zeigen, dass und warum aus Marx Schriften keinerlei Rechtfertigungen für einen derart desaströsen Umgang mit der Natur abzuleiten sind, sondern das genaue Gegenteil, nennt Detering als Ziel seines Buches.
Die Aufgabe
Schon in der Einführung nennt der Autor drei Grundaussagen, die jede für sich und alle zusammen im Folgenden verifiziert und resümiert werden sollen.
1) Alle ökonomischen, sozialgeschichtlichen und politischen Stellungnahmen und Schriften von Karl Marx „entfalten sich lebenslang im Horizont eines Naturdenkens“, das sich auf seine vielfältige Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen etwa von Alexander von Humboldt, Ernst Haeckel oder Justus von Liebig sowie breitgestreuter Rezeption der Literatur und Poesie der Romantik z.B. von Bettina von Arnim oder Goethe stützt. Ideelle Grundlage dabei ist stets die Vorstellung einer untrennbaren „universalen Wechselwirkung“ zwischen den Menschen und der Natur, die Marx später als permanenten Stoffwechsel bezeichnet, freilich im Sinne eines stetigen Gebens und Nehmens zum beiderseitigen Vorteil.
2) Diese „ökologische Sensibilität“ zieht sich in unterschiedlichen Ausprägungen von Anfang an durch all seine journalistischen, philosophischen und polit-ökonomischen Schriften bis hin zu eigenen naturpoetischen Gedichten.
3) Die dabei ursprünglich eher von einem „idealistisch-spekulativen Enthusiasmus“ geprägte Affinität zum Naturdenken der Romantik weicht bei Marx später einer „Hinwendung zu den Naturwissenschaften“ z.B. durch die Beschäftigung mit Darwins Evolutionstheorie oder den Forschungen zu Bodennutzung und Klimawandel durch Carl Fraas. Detering vergleicht diese Entwicklung mit der Auseinandersetzung von Marx mit der Philosophie Hegels als ein Stellen vom „Kopf auf die Füße“, wobei Marx parallel nach wie vor enge Bezüge zu literarischen und poetischen Schreibweisen pflege.
Die Durchführung
Wer nun befürchtet, eine trockene, abgehobene geisteswissenschaftliche Abhandlung vor sich zu haben, kann getrost beruhigt werden. Heinrich Detering versteht es vorzüglich, alle Aspekte seiner Grundthesen einerseits minuziös zu belegen, andererseits deren inhärente Entwicklungsstränge in der Zeit nachvollziehbar und überzeugend darzustellen. Die Lesenden finden zusätzlich in einem umfangreichen, übersichtlichen und aussagekräftigen Anmerkungsverzeichnis zu den einzelnen Kapiteln und Aussagen Unterstützung.
Die größte Hilfe bei der Bewältigung dieser doch recht komplexen Thematik wird jedoch durch den souveränen, vielfach unterhaltsamen und stets verständlichen Schreibstil des Autors geleistet. So ist auch der längste Schachtelsatz fast mühelos zu bewältigen.
Detering gelingt es, von Karl Marx das Bild eines Menschen zu zeichnen, der von Anfang an von einem symbiotischen Verhältnis von Mensch und Natur beseelt war und zu beweisen, dass dieses Verständnis auch in seinen dezidiert polit-ökonomischen Schriften bis hinein in „Das Kapital“ eine wesentliche Rolle bei der Analyse des destruktiven Charakters des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der jeweils damit verbundenen politischen Verfasstheit gespielt hat. So hat er mit Bravour sein in der Einführung des Buches selbst gestecktes Ziel erreicht: „Es geht im Folgenden nicht lediglich um historische Gerechtigkeit gegenüber einem Denken, das zu oft mit seiner deformierenden Rezeption verwechselt worden ist. Es geht auch um die fortdauernde Aktualität dieses wiederzuentdeckenden Denkens in einer Zeit, in der die Deformationen des Marxismus abgewirtschaftet haben, der sie überlebende Kapitalismus einen globalen Ökozid heraufbeschwört und die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines „Green Capitalism“ oder einer ökosozialistischen Wende nicht mehr bloß akademisch diskutiert wird, sondern zu einer Überlebensfrage geworden ist.“
Und diese positive Wiederentdeckung (das gilt gleichermaßen für das oben erwähnte Buch von Kohai Saito) könnte zu einem befördernden Element in einem neuen Zusammenwachsen linker Organisationen mit den verschiedenen Strömungen der Umweltbewegung und anderen alternativen Gruppen werden und vorhandenen falschen Dogmatismus einerseits und wokes Abdriften andererseits im gemeinsamen Diskurs eindämmen und womöglich überwinden. Denn die gemeinsame Aufgabe ist nach wie vor die nachhaltige Abschaffung des alle wesentlichen Lebensgrundlagen zerstörenden kapitalistischen Wirtschaftssystems.
Heinrich Detering ist anlässlich eines Vortrags am 28. November 2025 in Freiburg in der Uni im Rahmen des Studium generale live zu erleben. Er spricht zum Thema: „Die Erde und das Kapital: Karl Marx liest Goethe“. (Freitag 28.11.2025, 18 Uhr, Hörsaal 1015)
Das Buch „Die Revolte der Erde“ ist unter der ISBN-Nummer 978-3-8353-5807-2 im Wallstein-Verlag erschienen.





