Interview Kunst

Das Potenzial der Farbe: Im Gespräch mit der Künstlerin Katharina Grosse

Katharina Grosse ist eine gefragte Künstlerin. Gut zwei Wochen weilte die gebürtige Freiburgerin, die in Berlin wohnt, in Hamburg,

Das Potenzial der Farbe: Im Gespräch mit der Künstlerin Katharina Grosse

Katharina Grosse ist eine gefragte Künstlerin. Gut zwei Wochen weilte die gebürtige Freiburgerin, die in Berlin wohnt, in Hamburg, um ihre Ausstellung in den Deichtorhallen vorzubereiten. Sie war nicht nur dabei, als ihr raumgreifendes „Wunderbild“ in der 3000 Quadratmeter großen Halle für aktuelle Kunst installiert wurde, sondern hat auch eine neue Erdarbeit erschaffen. Vor ihrer Abreise in die Schweiz, wo sie den Messeplatz für die Art Basel in ein Gesamtkunstwerk verwandelt hat, nahm sich die 63-Jährige Zeit für ein Gespräch mit Dagmar Leischow.

Kultur Joker: Frau Grosse, wie reagiert Ihre Kunst auf Architektur?

Katharina Grosse: Mich hat immer interessiert: Wie erschließt sich der Raum oder die architektonische Qualität einer Institution mit künstlerischer Arbeit? Der Ort selber liefert ja schon eine Bildsprache. Ursprünglich habe ich das „Wunderbild“ für den Messeplatz der Nationalgalerie Prag entwickelt. Der Boden und die Wände waren aus Stein, es gab eine Glasdecke. Ich habe mich mit der Frage beschäftigt: Wie kann ich dieses riesige Volumen mit etwas konfrontieren, was es überhaupt nicht hat? Mein Bild konnte nicht alleine hängen, es musste mit dem Raum zusammengehen und mit ihm eine konspirative Energie bilden. So kam ich auf die Idee, etwas Leichtes zu machen – diese ganz dünnen Stoffbahnen. Das Bild ist für mich die Schnittstelle zwischen dem Imaginären meiner Möglichkeiten und der materiellen Realität.

Kultur Joker: Nehmen Sie Ihr „Wunderbild“ in den Deichtorhallen Hamburg anders wahr als in Prag?

Katharina Grosse: Allein die Lichtsituation ist hier völlig anders. Ich habe in den Deichtorhallen Licht von hinten. Wenn morgens die Sonne scheint, wirkt das Tuch fast durchleuchtet – wie ein Diapositiv. Außerdem kann ich um das Bild herumlaufen. Ich habe die Chance, diese Arbeit aus so vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten, dass ich gar nicht dazu komme, eine eindeutige Haltung zum Bild zu finden. Ich sehe etwas und weiß nicht genau, was ich das ist. Dadurch bekomme ich einen freieren Zugriff auf mein Sehen oder vielleicht auch auf das Erleben.

Kultur Joker: Sollen Ihre Werke verdeutlichen, dass die Welt nicht nur schwarz oder weiß ist?

Katharina Grosse: Genau. Ich möchte die Vielzahl unserer Möglichkeiten zeigen: das Potential.

Kultur Joker: Je nach Blickwinkel kann man in Ihren Arbeiten stets etwas Neues entdecken. Haben Sie Veränderungen nie als bedrohlich empfunden?

Katharina Grosse: Das kommt drauf an. Veränderungen, die nötig sind, machen sogar Spaß. Sei es ein Ortswechsel oder eine Reise. So etwas holt einen aus der Routine heraus. Man kann sich sogar dafür entscheiden, gar keine Routinen mehr zu haben. Solche Sachen probiert man ja aus. Natürlich birgt diese vielperspektivische Wahrnehmungsmethode Unsicherheit in sich. Möglicherweise entdeckt man aber, dass das Nicht-Garantierte attraktiver als das Immergleiche sein kann. Ob einem Veränderungen Angst machen, hängt immer davon ab, in welcher Situation man selber gerade ist.

Katharina Grosse: „Wunderbild“, 2018 (Detail), Acryl auf Stoff © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Jens Ziehe

Kultur Joker: Der Krieg in der Ukraine oder die Wirtschaftskrise sorgen derzeit für Verunsicherung. Gerade jetzt scheinen Veränderungen die Menschen eher zu ängstigen, oder?

Katharina Grosse: Die Veränderungen, die passieren, wenn Leute aus anderen Ländern zu uns kommen, beunruhigen viele. Doch man könnte auch einmal überlegen: Gibt es bestimmte Aspekte, die daran toll sind? Wer um die Ecke in einen Döner-Kebab-Laden geht, kriegt dort ein Nahrungsmittel, das durch Einwander:innen aus einer anderen Kultur zu uns gekommen ist. Da fängt es plötzlich an, interessant zu werden. Das ist ein guter Moment, um sich daran zu erinnern, dass es eine Bereicherung ist, wenn das Unbekannte in unser Leben einzieht. Gleichzeitig erschüttert uns dieses hohe Maß an Brutalität oder Gewalt, das wir plötzlich kennenlernen. Nicht nur durch den Krieg, sondern durch bestimmte Debatten und die Art und Weise, wie sie geführt werden. Da kann es sinnvoll sein zu gucken: Wie muss ich meine Perspektiven ändern, um damit besser umgehen zu können?

Kultur Joker: Vielleicht bräuchten wir mehr Wunder. Glauben Sie, wir sollten uns häufiger wundern?

Katharina Grosse: Ja. Ich plädiere für das Staunen. Dafür, etwas immer wieder neu sehen und denken zu wollen. Auf diese Weise kann man sogar seinen Alltag beleben.

Kultur Joker: Sind Sie 2004 mit Ihrem Werk „Das Bett“ aus Ihrer Routine ausgebrochen?

Katharina Grosse: Über mein Schlafzimmer hinweg zu malen, war auf jeden Fall eine vollkommen neue Erfahrung. Ich habe das privat in meiner Wohnung gemacht, um zu gucken: Wie ist es, wenn ich etwas durch Malerei nur für mich verändere – ohne Publikum? Ich habe meinen sogenannten Besitz, mein Bett, meine Bücher, meine Bilder und meine Schallplatten übermalt. Dadurch wurde meine eigene Geschichte in etwas verwandelt, was ich so noch nicht kannte. Sicherlich wollte ich auch etwas über mich selbst verstehen. Das war für mich eine große Veränderung. Ich besaß plötzlich die Fähigkeit, Sachen zu akzeptieren, die ich sonst aus meinen Bildern ausgeschlossen hatte.

Kultur Joker: Wie würde ein Gesicht aussehen, das Sie mit Farbe bemalen würden?

Katharina Grosse: Statt der Form des Gesichts zu folgen, würde ich darüber hinweggehen. Früher habe ich das gemalt, was ich sah. Ich fand den Kopf wahnsinnig interessant, habe aber darunter gelitten, dass meine Bewegung dort aufhören musste, wo die Nase oder das Auge anfingen. In meiner Wahrnehmung der Welt gibt es eigentlich keine Dinge. Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen: Ich kann nicht einfach ein Glas malen, weil ich es de facto nicht sehe. Ich sehe alles, was drumherum ist. Deshalb ist das Sprayen für mich so faszinierend. Mich reizt die Bewegung, die Agilität. Ich brauche viele verschiedene Leinwände an der Wand, auf denen ich immer wieder eine neue Bewegung stattfinden lassen kann.

Kultur Joker: In der Ausstellung in Hamburg können die Besucher:innen Sie in einem Dokumentarfilm in Ihrem Atelier beobachten. Ist Ihre künstlerische Arbeit etwas sehr Körperliches?

Katharina Grosse: Sie ist ganz stark mit dem Körper verbunden. Ich brauche meinen Körper für die Wahrnehmung, alle Sinne werden angesprochen. Mich bestimmt vor allem der Wunsch, herauszufinden: Wie ist mein Verhältnis zur Welt?

Kultur Joker: Wenn man Sie mit Ihrer Spritzpistole sieht, überlegt man: Welche Bedeutung hat Farbe für Sie?

Katharina Grosse: Es gibt keine pauschale Antwort. Total wichtig ist mir aber die sehr direkte Wirkung der Farbe. Sie kommt sofort ganz nah an mein gesamtes System heran. Farben funktionieren wie Gesang. Vielleicht spreche ich kein Italienisch und verstehe deshalb den Text einer Oper nicht. Trotzdem wirken der Klang und das Timbre der Stimme auf mich.

Kultur Joker: In den Deichtorhallen präsentieren Sie eine Erdarbeit, die ich spontan mit einem bunten Korallenriff assoziiert habe. Welche Rolle spielen Farben bei diesem Werk?

Katharina Grosse: Wenn man sich durch den Raum bewegt, sieht diese Arbeit von der einen Seite völlig anders als von der anderen. Sie wechselt zum Beispiel das Farbspektrum. Ein helles Blau wirkt auf diesem Klumpen so, als ob die Erdarbeit von innen heraus glühen würde. Erde ist etwas, was wir alle kennen. Wir wissen, wie es ist, darauf zu laufen. Gleichzeitig werden unsere Erkenntnisse durch die Übermalung komplett verändert. Das gibt einem die Chance, sich von irgendwelchen Vergleichen zu lösen und abseits von Labels eine ganz neue Erfahrung zu machen. Farbe kann also transformieren.

Kultur Joker: Farben haben auch in der Graffiti-Szene eine wesentliche Funktion. Hat sie Sie inspiriert?

Katharina Grosse: Natürlich fesselt mich alles, was im Stadtraum zu sehen ist. Der Gedanke, sich als Individuum öffentlich mit einem Bild zu äußern, ist einer Person, die malt, nicht fremd. Ich mache das ebenso, nur eben an einem anderen Ort. Allerdings war ich nie ein Teil der Graffiti-Szene, weil mich das Schreiben nicht interessiert hat. Bei Graffitis geht es um Tags, um das Benennen, um markierte Territorien. Es gilt: Hier ist eine Grenze, über die du nicht hinweggehst. Als Künstlerin strebe ich jedoch genau nach dem Gegenteil. Relevant für mich ist das Öffnen, das Nichtbenennen, die Entfaltung, das Auseinandergehen der Bewegung.

Kultur Joker: Springen wir zurück in Ihre Kindheit. Hat Ihre Mutter, die Künstlerin Barbara Grosse, Ihre Liebe zur Kunst geweckt?

Katharina Grosse: Unter anderem. Ich stamme aus einer Familie mit sehr vielseitigen kulturellen Interessen. Mein Vater ist oft ins Theater gegangen, mein Bruder liest viel. Als ich 19 war, hat meine Mutter ein Aquarell von mir gesehen. Sie schlug mir vor, für eine Woche zum Landschaftsmalen mitzufahren. Dabei habe ich entdeckt, welche Möglichkeiten die Malerei bietet.

Kultur Joker: Sie haben dann in Münster und Düsseldorf Kunst studiert. Mussten Sie sich während Ihres Studiums stärker behaupten als Ihre männlichen Kommilitonen?

Katharina Grosse: Das müssen Frauen in unserer Gesellschaft generell, nicht nur an der Kunstakademie. Es gab in der Akademie definitiv Hierarchien. Einem Mann wurde mehr zugetraut als einer Frau, man hat ihm besser zugehört und ihm eher geglaubt. Bis heute mache ich immer wieder die Erfahrung, dass man Frauen nicht genug zuhört. Obwohl das, was sie zum gemeinsamen Zusammenleben vorzubringen haben, so wichtig ist. Dennoch sind die Entscheidungsträger zu sehr auf sich selbst fokussiert.

Kultur Joker: Hat Sie das nie animiert, sich mit Ihrer Kunst dem Feminismus zu verschreiben?

Katharina Grosse: Mein Beitrag ist es, meine Arbeit in der Form zu machen, wie ich es tue. Ich stelle mich generell gegen das explizite Labeln, das ist mir zu klein, zu eng. Aus meinen Bildern geht hervor, dass wir viele Möglichkeiten haben. Die Lösung ist ja auch nicht, dass nur noch Frauen zum Zuge kommen. Studien belegen: Gemischte Teams erbringen die besten Leistungen. Bloß scheint das in Deutschland niemanden zu interessieren. Deshalb ist die Polyperspektive eben ein Zentrum meines künstlerischen Schaffens.

Kultur Joker: Liebe Katharina Grosse, wir danken Ihnen für das Gespräch!

 

Fotonachweis: Portrait Katharina Grosse, Foto: Larissa-Hofmann

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Dagmar Leischow

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