#3 Schaurige Mythen aus Freiburg: Dort, wo die Toten ruhen. Freiburger Münsterplatz, 1510
Der Münsterplatz gehört heute wohl zu den beliebtesten und buntesten Orten Freiburgs. Der bekannte Münstermarkt bietet Leckereien aus der Region und abends laden Lokale und Restaurants zum gemütlichen Beisammensein mit einem Gläschen Wein ein. Doch wo heute das Herz der Stadt schlägt, machten die Bewohner:innen der Stadt vor über 500 Jahren einen großen Bogen…
Eine alte Dame und das Münster
Freiburg, 1510: Die Dunkelheit ist bereits in die Stadt eingezogen. Spärlich beleuchten einzelnen Laternen den Weg zwischen den Gassen und doch könnte die alte Dame nicht erkennen, was sich die nächsten 20 Meter vor ihr befindet. Einen Korb in der Hand, steuert sie zielstrebig auf das Münster zu. Ein so imposantes Bauwerk, dass der alten Dame der Atem stockt, sobald sie vor dem Gotteshaus zum Stehen kommt und ihren Blick entlang der rosig wirkenden Sandsteinfassade gleiten lässt, hinauf zur Spitze des Turms. Bald ist es vollendet, denkt sie. Nur noch wenige Jahre. Meine Mutter, meine Großmutter und sogar ihre Mutter erzählten sich von diesem Bau, der so viele Generationen überdauerte und dessen Vollendung sie lebendig nicht mehr erleben durften. Aber ich werde die Einweihung miterleben und ich werde ihnen davon erzählen, wenn ich sie am Grabe besuche… auf einmal schreckt die alte Dame auf. Etwas Kaltes hat ihre Fußfessel gestreift. Gerade so schnell, wie ihre alten Knochen es erlauben, versucht sie zurückzuspringen, doch es gelingt ihr nicht. „Was ist …“, erschrocken richtet sie ihren Blick gen Boden. Ein erstickter Schrei verlässt ihre Kehle, nicht laut genug, um die schlafenden Freiburger:innen zu wecken und doch laut genug, dass sich das kalte Weiße nur noch enger um ihr Fußgelenk schlingt. Langgliedrige, weiße Knochenfinger bohren sich in ihr Fleisch und reißen sie zu Boden.
Dort wo die Toten ruhen… oder doch nicht?
Ein Gesandter des Kaisers Maximilian I. klopfte, nein, hämmerte – man möge ihm diese Wortwahl angesichts des Ortes, an dem er sich nun befindet, verzeihen – zu einer gottlosen Zeit gegen seine Tür. Es war noch dunkel und feucht vom Nebel der Nacht, als er sich die Stiefel anzog, eine Laterne schnappte und dem Zug aus Soldaten folgte. Man hatte ihm kein Ziel genannt, doch auf dem Weg, wo auch immer dieser hinführte, wurden weitere Freiburger:innen aus ihren Träumen gerissen und an der Tür mit Schaufeln ausgestattet, bevor auch sie schweigend dem Menschenzug folgten.
Jetzt, wo sie ihr Ziel erreicht haben, stellen sich ihm nicht weniger Fragen. Vor ihm ragt das Münster auf, bedrohlich und dunkel und um ihn herum reihen sich die Gräber wie kleine Spielsteine aneinander. Sie stehen auf der sogenannten Schattenseite, dort, wo die armen Gestalten begraben werden, dort, wo auch er irgendwann in der Erde verrotten wird. Er besucht diesen Ort nicht gerne, nicht nur, weil er keinerlei Interesse daran hat, seine zukünftige Bleibe zu begutachten, sondern vor allem wegen der Geistergeschichten, die seit Generationen erzählt werden. Denn die Toten, die ihre letzte Ruhe auf der Schattenseite des Münsters finden sollen, sind lebendig und wütend. Wütend, weil ihr Wert auch noch im Tod unter dem der Reichen liegt – unter jenen Freiburger:innen, die sich ein Grab auf der Nordseite des Münsters kaufen konnten und ihren Frieden unter dem barmherzigen Blick der Patronin, „unserer lieben Frau“, fanden. Doch die anderen, vergessenen Seelen, deren Wert auch noch im Tode an Gold und Macht gemessen wird, tauchen dann und wann auf. Manche hören ein Stöhnen, andere das Klappern von Knochen und wieder andere … Moment. Was ist das? Ein Korb?
Eine tiefe Stimme erhebt sich an der Spitze des Menschenzuges. „Eine Frau wird vermisst, ihr Mann hat uns alarmiert, nachdem sie nicht nach Hause gekommen ist. Alles was wir jedoch auf ihrem Heimweg finden konnten, war dieser Korb. Die Alten beginnen schon wieder von ihren albernen Geschichten, dass die Toten zurückkehren und Rache üben würden. Das muss im Keim erstickt werden. Kaiser Maximilian I. hat Sie alle dazu erkoren, die Gräber auszuheben. Der Friedhof wird in den Norden der Stadt versetzt.“
Es heißt, dass auf dem Münsterplatz auch heute noch ein leises Lachen, ein schmerzverzerrtes Seufzen und das Aneinanderreiben von alten Knochen für jene zu hören ist, deren Herz frei von Gier ist.
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- #3 Schaurige Mythen aus Freiburg: Dort, wo die Toten ruhen. Freiburger Münsterplatz, 1510: Foto: Felipe Hieb via pexels