Das Gespenst der Freiheit und sein Preis: Who is John Galt?
„‚Who is John Galt?‘ was the question that everyone asked, in a world where the mind had been replaced
„‚Who is John Galt?‘ was the question that everyone asked, in a world where the mind had been replaced by the collective, where the mind had been cast aside, in a world where people no longer believed in the power of reason. It was a question that nobody could answer, but it was a question that everyone asked. It was the question of the lost, the question of the dying, the question of a world that had no answers.“ (Ayn Rand, Atlas shrugged)
Die Frage zieht sich wie ein Fluch durch den Roman – eine leere Formel, ein resigniertes Achselzucken, ein Symbol für das Scheitern der Vernunft in einer kollabierenden Welt.
Und dann, 2023, in Buenos Aires, Argentinien: Ein Mann mit zerzausten Haaren und einem Löwen im Wappen stürmt auf die politische Bühne. In der Hand keine Fackel – sondern eine Kettensäge. Sein Schlachtruf: ¡Viva la libertad! Caracho! Seine Gegner: Inflation, Staatskult, Wokeness. Die Medien nennen ihn exzentrisch, gefährlich, messianisch. Doch für Millionen klingt seine Stimme wie eine Antwort. Auf ein Flüstern, das lange durch die Geschichte hallte: Wer ist John Galt?
So fragen sie, wenn der Strom ausfällt, der Aufzug steckenbleibt, die Wirtschaft stillsteht. Wenn die Regeln sich gegen jene Leistungsträger wenden, die einst den Fortschritt trugen: Ingenieure, Erfinder, Unternehmer, Wissenschaftler, Denker… Es ist die resignierte Frage einer müden Zivilisation – gestellt wie ein Fluch, wie ein Witz, wie ein letzter Rest von Hoffnung.
John Galt war damals nur eine Romanfigur. Javier Milei könnte sein Fleisch gewordenes Pendant sein. Und als er 2023 mit der mittlerweile berühmt gewordenen Kettensäge auf die politische Bühne Argentiniens trat, schien es, als hätte jemand die Seiten von Ayn Rands Atlas Shrugged aufgeschlagen und in die Realität übertragen.
„Ich schwöre bei meinem Leben und meiner Liebe dazu, dass ich niemals für einen anderen Menschen leben werde – noch von einem anderen verlangen werde, für mich zu leben.“ (John Galt, in: Ayn Rand, Atlas shrugged)
Doch was bedeutet das – und für wen? Ist der neue Freiheitskampf ein Fortschritt, eine Rückkehr, ein Irrweg? Und warum wird ausgerechnet jetzt die alte Frage nach der Freiheit wieder zur politischen Sprengkraft?
Was John Galt als Ethos formulierte, lebt Milei als Regierungsprogramm. Der neue Präsident Argentiniens erklärt den Kollektivismus zum öffentlichen Feind Nummer eins, verurteilt den Staat für den Übergriff auf das Individuum, den Wokeismus für die Bedrohung der Freiheit. Er ist ein bekennender Anarchokapitalist und seine Gegner nennen ihn einen Populisten, einen Besessenen. Seine Anhänger feiern ihn als ersten echten Freiheitskämpfer des 21. Jahrhunderts.
Aufstand gegen die Vormundschaft
Dass ein libertärer Ökonom mit einer Kopie von Friedrich Hayeks Weg zur Knechtschaft vor der UN-Vollversammlung steht, ist nicht nur Provokation. Es ist ein Symbol. Für den Aufstand des Einzelnen gegen die Vormundschaft der Systeme. Für eine neue Internationale der Freiheit.
Und es ist auch eine Abrechnung mit einer Linken, die – so Ulf Poschardt in seinem Independent-Buch „Shitbürgertum“ (2024) – die Idee der Freiheit an einen paternalistischen Staat verraten und an eine neue Moralpolizei verkauft habe. Eine Linke, die einst für Emanzipation und Selbstbestimmung stand und heute Bevormundung, Sprachkontrolle und Gesinnungszwang für „höhere Ziele“ durchsetzen möchte.
Poschardts Diagnose ist scharf: Die Mitte hat ihre Freiheit abgegeben, und die Kultur des Eigenverantwortlichen wird nur noch verspottet oder verdächtig gemacht. Der Bürger wurde zum Shitbürger: angepasst, kontrolliert, selbstgerecht. Beinah wie Nietzsches letzte Menschen – komfortsüchtig haben sie es sich bequem gemacht und haben die gefährlichen Gebiete verlassen. In dieser Landschaft wirkt Milei wie ein Anachronismus – oder wie ein Weckruf. Sozialisten und Kirchneristen diskutierten ihn in TV-Talkshows nieder, doch dann kamen die Corona-Lockdowns und der weltweite Ruf nach Freiheit wurde immer lauter.

Die Denktradition der Selbstbehauptung
Javier Mileis Wurzeln reichen tief. Er ist nicht nur das politische Ereignis, er ist ein Produkt ideengeschichtlicher Linien: Ayn Rands radikaler Individualismus, Hayeks Kampf gegen die ökonomische Planwirtschaft, von Mises’ Glaube an den freien Markt, Rothbard, Friedman – all diese Stimmen fließen in seinem Denken zusammen. Und ihre Quelle ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie.
Diese Schule, von einem überbordenden Keynesianismus, der mit fiskalischen Interventionen, die freien Märkte meint gestalten zu können, ridikülisiert und ignoriert, ist in Wahrheit eine Denktradition der Selbstbehauptung. Ihr zentrales Prinzip: Der Mensch als souveränes Individuum. Nicht der Staat, nicht das Kollektiv, nicht der historische Auftrag – sondern der Einzelne mit seinem Eigentum (vgl. Max Stirner), seiner Verantwortung (im Sinne Max Webers gegen die Gesinnungsethiker, die eigentlich Ideologen sind), seiner Entscheidung. Darin treffen sich Rand und Milei, Philosophie und Politik, Fiktion und Realität, Literatur und Gegenwart.
Was Freiheit bedeutet – für Ayn Rand
Was heißt es, ein freies Leben zu führen – wenn man den Totalitarismus erlebt hat? Für Ayn Rand bedeutete es alles. Sie wurde 1905 in Sankt Petersburg geboren, wuchs unter dem Schatten der Oktoberrevolution auf und floh Anfang der 1920er-Jahre in die Vereinigten Staaten. Sie kam aus einer Welt, in der die Partei die Gedanken formte und und wenn nicht kontrollierte, so doch zu manipulieren begann, der Staat das Eigentum verteilte und der Einzelne nichts war – als Werkzeug der Geschichte. In Amerika fand sie ein anderes Versprechen: dass das Ich heilig sein darf. Dass niemand das moralische Recht hat, sich über den Willen des Einzelnen zu stellen. Ihre Philosophie, der Objektivismus, ist nicht nur Theorie – sie ist Fluchtpunkt eines existenziellen Gegensatzes: Hier das Leben unter Totalitarismus, dort das Recht auf Selbstentfaltung.
In dieser persönlichen Erfahrung liegt die Radikalität ihrer Botschaft. Und vielleicht erklärt sich daraus auch die Emphase, mit der sie das „Recht auf Egoismus“ verteidigte – nicht als Narzissmus, sondern als moralischen Imperativ gegen jede Form von Kollektivzwang. Für Rand war jede Form von Altruismus gefährlich, wenn sie nicht freiwillig war. Denn sie hatte gesehen, was geschieht, wenn „höhere Ziele“ das individuelle Leben verschlingen.
Der Preis der Freiheit ist ewige Wachsamkeit
Dieses oft Jefferson zugeschriebene Diktum hätte auch das Motto von Friedrich August von Hayek sein können. In „Der Weg zur Knechtschaft“ warnte er eindringlich vor den schleichenden Formen des Totalitarismus, die sich nicht im Marschtritt der 30er Jahre, sondern in Wohltaten eines paternalistischen Staates anschleichen. Und schon 1944 warnte er dort vor den „sozialistischen Wurzeln des Nationalsozialismus“. Er sah die große Gefahr nicht allein im offenen Despotismus, sondern in der gut gemeinten Planung – in der Idee, der Staat könne und müsse die Bedingungen für ein „gutes Leben“ kollektiv garantieren. Genau hier liegt der Grundkonflikt der Freiheit im 20. und 21. Jahrhundert.
Für Hayek war Freiheit nicht die Abwesenheit von Not, sondern die Abwesenheit von Zwang – eine negative Freiheit im Sinne von „Freiheit von“ staatlicher oder gesellschaftlicher Einmischung. Ludwig von Mises, sein Weggefährte in der Österreichischen Schule, radikalisierte diesen Gedanken ökonomisch: Jede Einmischung sei der erste Schritt auf einer „Interventionsspirale“, an deren Ende nicht mehr Wohlstand, sondern Kontrolle stehe. Auch er verstand Freiheit als etwas Fragiles – nicht als Zustand, sondern als Praxis ständiger Selbstbehauptung.
Diese Perspektive legt den Finger auf ein fundamentales Paradox: Dass Freiheit nur durch Grenzen ihrer selbst bestehen kann. Denn wo die Freiheit des einen beginnt, endet die des anderen – und umgekehrt. Genau an dieser Schnittstelle entzündet sich heute der gesellschaftliche Kulturkampf. Zwischen den Polen von Selbstverwirklichung und sozialer Rücksicht, zwischen Redefreiheit und Sprachsensibilität, zwischen Individualrecht und Kollektivschutz.
Die Tyrannei der Moral
Nirgends wird dieser Konflikt so heftig ausgefochten wie in der Debatte um „Wokeness“. Ursprünglich eine Haltung der Achtsamkeit gegenüber Diskriminierung und gesellschaftlicher Machtasymmetrie, wurde aus dem aufrechten Blick für Schwache ein prüfender Blick auf Abweichler. Die Idee der Gerechtigkeit verwandelte sich in eine neue Orthodoxie mit eigenen Dogmen, Sprachregelungen und Exkommunikationen. Der Kipppunkt ist erreicht, wenn Schutz zur Kontrolle wird – und Moral zur Machttechnik.
Konkrete Beispiele gibt es viele: Universitäten, an denen Gastredner ausgeladen werden, weil ihre Positionen nicht der „Safe Space“-Logik entsprechen. Verlage, die Werke klassischer Autoren umschreiben lassen, um sie an moderne Sensibilitäten anzupassen. Und Autoren wie Ulf Poschardt erst gar nicht mehr verlegen, weil sie den Finger in die Wunden der Political Correctness legen und das neue Establishment in ihrer Abspaltungsgeste entlarven. Seine Beispiele sind für die linke Hegemonie schockierend: Günter Grass und Walter Jens, die ihre Waffen-SS Vergangenheit von ihrem Gegenwartsego abgespalten hatten, während sie die Nation mit moralischem Zeigefinger „zum Guten“ führen wollten. Was Grass und Jens für die alte Bundesrepublik, ist heute Cancel Culture, die nicht diskutiert, sondern markiert, ausgrenzt und verbannt. Das alles sind keine Randphänomene mehr – es sind Symptome eines neuen moralischen Autoritarismus.
Und genau hier treffen sich Hayek, Rand, Milei und Poschardt. Denn was als Schutz beginnt, kann – ohne Gegengewicht – zum Zwang werden. Und was sich als Sorge für die Gemeinschaft tarnt, wird mitunter zur Entmündigung des Einzelnen. John Stuart Mill hat diesen Moment in „On Liberty“ (1859) bereits im 19. Jahrhundert vorausgedacht: Die „soziale Tyrannei“, schrieb er, sei gefährlicher als die politische. Denn sie wirke nicht durch Gesetze, sondern durch Normen, durch die permanente Kontrolle dessen, was gesagt, gedacht, geglaubt werden dürfe. Die Freiheit, so Mill, brauche nicht nur Schutz vor dem Staat – sondern auch vor der Mehrheit. Hier schließt sich der Kreis zu Alexis de Tocquevilles Begriff der „Tyrannei der Mehrheit“ (1835). Auch von Mises greift diesen Gedanken wieder auf: „Die übelste und gefährlichste Form einer absolutistischen Herrschaft ist die einer intoleranten Mehrheit.“
Freiheit in Zeiten der Delegation
Und wie steht es um die Freiheit bei uns? Auch in Deutschland ist sie fragiler, als wir glauben. Als der US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2025 sprach, warf er den europäischen Verbündeten – ganz besonders auch den Deutschen – vor, die Verantwortung für ihre Freiheit längst an die Vereinigten Staaten delegiert zu haben. Unsere Verteidigung, unser Energiemodell, unsere digitale Souveränität – alles basiere auf Strukturen, die andere sichern. Vance hielt uns den Spiegel vor: Wer von Freiheit spricht, muss auch bereit sein, ihre Kosten zu tragen – und Risiken einzugehen. Doch er markierte auch die Gefahr, die von innen ausginge: Der Kampf um die Meinungsfreiheit. Er hat schon deshalb einen wunden Punkt getroffen, dass selbst nach dieser Rede, die für viel Empörung sorgte, selbst noch im neuen Koalitionspapier die Meinungsfreiheit nicht als absolutes Gut geheiligt wird wie es in unserer Demokratie früher einmal war, sondern dass sie vielmehr problematisiert wird: die neue Koalition möchte zwar eine „staatsferne Instanz“ einsetzen, um die Meinung der Bürger zu beaufsichtigen, doch wer soll dafür ein Mandat bekommen? Der Privatsektor wie die zuvor freiwillige Zensur durch Facebook oder Youtube fällt seit der Inauguration Trumps aus. Silicon Valley im Schulterschluss mit Wokeness und Cancel Culture war einmal. Das waren ja auch wahnhafte Auswüchse der Kontrolle – und sind es im Koalitionspapier bei uns gründlichen Deutschen noch! „Hass und Hetze“ instrumentalisieren, um Kontrolle über den Meinungskorridor ausüben zu können und in Anzeigen und völlig unverhältnismäßigen Verurteilungen gegen harmlose Bürger gipfeln zu lassen.
Der existenzielle Kern der Freiheit – als beständige Selbstbehauptung wider die Zumutungen von Ordnung, Moral oder Sicherheit – reicht tief zurück. In der Geistesgeschichte steht er am Anfang der Neuzeit: bei Nikolaus von Kues, der das Individuum als „coincidentia oppositorum“ denkt, als Ort der paradoxen Einheit von Freiheit und Notwendigkeit. Bei Giordano Bruno, der für das Recht, unzeitgemäß zu denken, auf dem Scheiterhaufen endet. Und schließlich bei Hans Blumenberg, der in der Legitimität der Neuzeit am Beispiel vom Cusaner und Nolaner zeigt, wie die Moderne nicht durch einen Bruch mit der Theologie entsteht, sondern durch die mühsame Aneignung von Autonomie – als „Selbsterhalt im Weltganzen“. Hier offenbart sich ein drittes Freiheitsverständnis: die Freiheit trotz… Trotz Übermacht. Trotz Risiko. Trotz des „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg).Trotz der Ungewissheit, ob es gelingen kann. Und genau dieser Geist kehrt – brüchig, widersprüchlich, ungezügelt – in Gestalten wie Javier Milei zurück. Es braucht also keine letzte Generation, sondern eine Jugend, die aufbricht, die ihr Leben vor sich sieht, das es zu gestalten gilt. Wir brauchen eine neue junge „skeptische Generation“ ganz im Sinne Helmut Schelskys, die diese Bewegung zu einem Geschichtszeichen à la 1789 und 1989 machen kann – für ihre eigene Zukunft.

Amerika – der schlafende Leviathan
Doch wie steht es um das Mutterland der Freiheit selbst? Die Vereinigten Staaten, einst Verheißung des selbstbestimmten Lebens, wirken heute gespalten – zwischen dem republikanischen Ruf nach Deregulierung und dem demokratischen Versprechen sozialer Absicherung. Zwischen Silicon Valley-Libertarismus und Ivy-League-Identitätspolitik. Zwischen den Rufen nach maximaler Freiheit – und maximaler Rücksicht.
Der amerikanische Liberalismus, so scheint es, steht an einem Scheideweg. Die Linke hat sich zunehmend auf „positive Freiheit“ verlegt – auf die Durchsetzung von Inklusion, Diversität, Gleichheit. Die Rechte klammert sich an „negative Freiheit“ – an Eigentum, Waffenrecht, Meinungsfreiheit. Was einst zwei Seiten derselben Medaille waren, erscheinen nun als unvereinbare Gegensätze. Unsere Politiker im Schulterschluss mit den Haltungsjournalisten der öffentlich-rechtlichen Medien haben sich längst auf die Seite der „Guten“ geschlagen. Als gäbe es kein Grau, nur noch schwarz und weiß, gut und böse, keine differenzierten Zwischentöne.
Freiheit als Produktivkraft: Elon Musk und die techno-libertäre Vision
Im Silicon Valley hat die Idee individueller Freiheit längst eine neue Form angenommen. Sie trägt T-Shirts mit Mars-Logos, träumt von interstellaren Raumfahrtkolonien und spricht in den Codes der Disruption. Kein anderer verkörpert diesen techno-libertären Geist so konsequent wie Elon Musk. Er ist Kapitalist, Visionär, Provokateur – und zugleich ein Grenzverschieber im Sinne John Galts: radikal in seinem Individualismus, anti-etatistisch in seinem Denken, technikgläubig in seiner Mission.
Wie Ayn Rands Unternehmer-Helden versteht sich Musk als Antithese zur Bürokratie: Er baut, was andere nur regulieren wollen. Während Politiker noch über CO₂-Ziele verhandeln, stellt er Solardächer auf, um den Strom für seine E-Ladeparks selbst zu produzieren und schickt Raketen ins All, die „Ressourcen schonend“ – im Vergleich zum herkömmlichen Weltraumschrott – rückwärts wieder einparken. Während Gewerkschaften Schutz einklagen, ruft er zur 80-Stunden-Woche. Während andere von Gemeinwohl reden, spricht er von Effizienz, Skalierung, Fortschritt.
Aber der Unternehmer ist mehr als nur ein Technikvisionär. Er ist auch ein politisches Phänomen: libertär, unberechenbar, staatskritisch. Einer, der zentrale Infrastrukturen wie SpaceX oder X (Twitter) bewusst außerhalb staatlicher Kontrolle platziert – als „andere Räume“ (vgl. Foucault) für unternehmerische wie auch sprachliche Autonomie. Musk ist kein Philosoph, aber seine Positionen sind (anti-)ideologisch – je nachdem von welcher Seite man es betrachtet – aufgeladen: gegen Zensur, gegen woke Kultur, gegen die „Regeln des Establishments“. Was bei Javier Milei zur Regierungspolitik wird, lebt Musk als techno-libertäre Praxis.
Für viele ist er ein gefährlicher Egomane, der Märkte verzerrt und Arbeitnehmerrechte missachtet. Für andere ist er der Beweis, dass große Würfe nur dort gelingen, wo das Individuum nicht durch kollektive Ängste gebremst wird. In dieser Ambivalenz zeigt sich ein zentrales Dilemma unserer Zeit: dass Fortschritt und Freiheit sich bedingen können – aber nicht müssen. Und dass eine Gesellschaft entscheiden muss, welchen Preis sie bereit ist, für beides zu zahlen.
Denn so wie Musk als Unternehmer Freiräume fordert, so ist sein Einfluss längst auch ein geopolitischer Faktor. Seine Satellitenflotte „Starlink“ wird zur Infrastruktur im Ukrainekrieg. Seine Tweets bewegen Börsen und Weltpolitik. Und sein Netzwerk reicht tiefer in militärische und staatliche Strukturen als viele westliche Regierungen sich eingestehen möchten, weshalb sie auf ihn reagieren wie gejagte Tiere. Freiheit, das zeigt sich hier, ist nicht nur eine ethische oder ökonomische Kategorie – sie ist eine Frage von Macht, Technologie und globaler Ordnung.
Der Preis der Souveränität: Philipp Bagus, die Ära Milei und Europas Schwäche
Diese geopolitische Dimension greift auch der deutsche Ökonom Philipp Bagus in seinen Analysen zur Ära Milei auf. In seinem jüngsten Buch beschreibt er den argentinischen Präsidenten nicht nur als wirtschaftspolitische Anomalie, sondern als Symptom eines globalen Umschwungs: weg vom Wohlfahrtsstaat, hin zu einem neuen Freiheitsideal – getragen von Marktzugang, Eigentum und persönlicher Verantwortung.
Bagus argumentiert: Die Schuldenstaaten des Westens – allen voran in Europa – leben von geliehener Zeit und geliehenem Geld. Ihre expansive Geldpolitik, ihr ausufernder Sozialstaat und ihre mangelnde Innovationskraft würden sie langfristig zu Bittstellern machen – abhängig von den produktiven Kräften anderer, wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch. Was bei Milei wie Wahnsinn wirkt, sei in Wahrheit ein radikaler Realismus: die Einsicht, dass es keine politische Freiheit ohne ökonomische Souveränität geben kann.
Bagus erkennt in der Bewegung ein neues historisches Fenster. In Die Ära Milei beschreibt er, wie das argentinische Experiment das Potenzial hat, zum Leuchtturm für andere Länder zu werden – als Modell radikaler Entstaatlichung, der Rückkehr zu marktwirtschaftlicher Rationalität und der Wiederbelebung einer Bürgerlichkeit, die sich nicht auf den Staat verlässt. Bagus versteht Mileis Kurs nicht als Risiko, sondern als Chance zur geistigen Selbstbefreiung aus der Bevormundung.
Es ist kein Zufall, dass Bagus – deutscher Professor in Madrid – mit besonderem Blick auf die euro-atlantische Welt argumentiert. Denn der Zustand der Freiheit in Europa hängt immer stärker von kulturellen Rückkopplungen ab: von digitalen Räumen, medialen Kämpfen, ökonomischen Realitäten. In einem System, das sich zunehmend über Klimaziele, Sicherheitspolitik und regulatorische Rahmungen definiert, geraten individuelle Spielräume ins Rutschen.
Besonders hart geht Bagus mit der Europäischen Union ins Gericht. Er – und damit ist er bei Leibe nicht der Einzige – sieht in ihr keine Schutzgemeinschaft, sondern eine Planungsmaschine, die sich tief in nationale Belange einmischt – und dabei die Selbstverantwortung untergräbt sowie selbst eine protektionistische Politik betreibt, die sie besonders der Trump-Administration vorwirft. In dieser Kritik trifft er sich mit Hayek, mit Rand und auch mit Musk: Freiheit ist nicht teilbar. Wer sie delegiert, verliert sie.
Die Unzufriedenheit, die daraus wächst, findet in Figuren wie Musk oder Milei globale Projektionsflächen.
Was entsteht, ist keine einheitliche Bewegung. Aber vielleicht ein neues Koordinatensystem. Eines, das sich nicht mehr entlang der klassischen Links-Rechts-Achse einordnen lässt, sondern entlang einer neuen Hauptfrage: Wer glaubt noch an das Individuum?
Epiphanie der Moderne
Am Ende steht die Frage, die Hans Blumenberg in seiner Legitimität der Neuzeit stellte: Kann das Individuum sich selbst rechtfertigen – ohne Berufung auf Transzendenz, auf Gott, auf Geschichte? Die Moderne, so Blumenberg, lebt vom Pathos der Selbstbehauptung – von Cusanus über Giordano Bruno bis zu den radikalen Denkern des 20. Jahrhunderts. Und vielleicht ist das, was sich heute in Buenos Aires, im Silicon Valley oder in digitalen Foren abzeichnet, nichts anderes als ein neues Kapitel dieser Selbstbehauptung: der Versuch, dem Einzelnen seine Souveränität zurückzugeben – gegen alle kollektiven Zumutungen.
Eine neue Internationale des Individuums?
Milei in Buenos Aires, Musk in Austin, Vance in Washington, Bagus in Madrid, Poschardt in Berlin… – es scheint, als entstehe gerade eine neue Internationale des Individuums: intellektuell zersplittert, ideologisch heterogen, aber verbunden durch die gemeinsame Ablehnung eines übergriffigen Staates, der durch einen moralischen Kollektivismus bzw. einen „politischen Moralismus“ (H. Lübbe) geprägt ist. Sie eint das Misstrauen gegenüber staatlicher Allzuständigkeit, die Kritik an moralisierender Bevormundung, das Bekenntnis zur Autonomie.
Doch wie tragfähig ist diese Allianz? Was trennt den unternehmerischen Libertarismus eines Musk vom ökonomischen Schocktherapeuten Milei? Was unterscheidet die kalifornische Start-up-Ideologie vom europäischen Liberalismus klassischer Prägung? Und wie reagiert eine Welt, die auf Interdependenz angewiesen ist, auf diese Radikalisierung des Ich?
Die eigentliche Frage ist vielleicht nicht: Wer ist John Galt?
Sondern: Wer darf es heute noch sein?
Wer also ist John Galt – heute?
Vielleicht ist er kein Mann mehr, der Maschinen baut und Züge am Laufen hält. Vielleicht ist er kein Erfinder, sondern ein Schumpeterscher Unternehmer. Vielleicht ist er ein Präsident mit Kettensäge. Vielleicht ein Visionär mit Raketenprogramm. Vielleicht auch nur ein Mensch, der sich nicht absichern lässt, weil er weiß: Freiheit muss verletzlich bleiben, prekär, instabil… sonst ist sie keine.
John Galt ist kein Heiliger. Er ist eine Zumutung. Für jede Gesellschaft, die sich in ihrer Ordnung eingerichtet hat. Für jede Regierung, die meint, das Denken regulieren zu müssen. Für jede Ideologie, die vorgibt, das Gute zu kennen. In einer Welt, die lieber moralisiert als diskutiert, wird Galt zum Störfaktor – und zum Prüfstein. Er fragt nicht, was erlaubt ist. Er fragt, was möglich wäre. Nicht: „Was darf ich sagen?“ Sondern: „Was wäre, wenn ich es täte?“
In dieser Frage liegt die ganze Sprengkraft des libertären Denkens – und vielleicht auch seine Schwäche. Denn Freiheit ist kein reines Ideal. Sie ist ein Risiko, ein Wagnis, eine Verantwortung. Das Experiment Milei wird zeigen, ob es in der politischen Praxis bestehen kann.
Doch eines ist sicher: Die Debatte ist eröffnet. Über das Verhältnis von Staat und Individuum. Über die Grenzen der Moral. Über die Wiederentdeckung des Selbst als Ort der Weltdeutung. Die Frage nach John Galt ist zurück – nicht als Floskel, sondern als Prüfstein unserer Gegenwart.
Im zweiten Teil dieses Essays – geplant für die Herbstausgabe der UNIversalis – soll es nicht primär um die tagespolitische Entwicklung gehen, sondern um die geistigen und kulturellen Wurzeln des Freiheitsgedankens: von der Antike über die Scholastik, die Reformation und Aufklärung bis zur Existenzphilosophie. Denn nur wer weiß, woher die Idee der Freiheit kommt, kann ermessen, was sie uns bedeutet.
Drei Gesichter der Freiheit
Freiheit von… (negative Freiheit)
– Abwesenheit äußerer Zwänge
– Staat hält sich zurück, schützt die Rechte des Einzelnen
– Betonung auf Nicht-Einmischung, Selbstverantwortung
– Vordenker systematich: Hayek, Mises, Rothbard…
– literarisch: Rand, Vargas Llosa…
– Freiheit zu… („positive“ Freiheit)
– Fähigkeit zur Selbstentfaltung
– Ermöglichung von Teilhabe und Gerechtigkeit
– Betonung auf Unterstützung, Chancengleichheit
– Vordenker: Isaiah Berlin, Charles Taylor
– Freiheit trotz… (existenzielle Freiheit)
– Selbstbehauptung trotz äußerer Bedingungen
– Freiheit als mutiger Akt gegen Widerstände
– Betonung auf Entscheidung, Risiko und Standhalten
– Vordenker historisch: Cusanus, Giordano Bruno, Luther…
– gegenwartsphilosophisch, systematisch: Hans Blumenberg…
Das Paradox:
Mehr „Freiheit zu“ verlangt oft mehr staatliches Eingreifen – was die „Freiheit von“ beschränkt. Doch auch ohne äußere Zwänge bleibt Freiheit nicht automatisch erhalten: „Freiheit trotz“ erinnert daran, dass sie immer wieder errungen, verteidigt, erlitten werden muss. Die Frage lautet nicht nur: Was darf ich tun? Sondern auch: Bin ich bereit, frei zu sein?





