Man kann nichts ungeschehen machen: Die Freiburger Immoralisten landen mit ihrer Open-Air-Version des „Großen Gatsby“ einen großen Wurf
Wer ist Jay Gatsby, den sie – warum auch immer – den großen Gatsby nennen? Das Rätsel um seinen
Wer ist Jay Gatsby, den sie – warum auch immer – den großen Gatsby nennen? Das Rätsel um seinen Protagonisten, das F. Scott Fitzgeralds großartigen Roman antreibt, scheint in der Version der Freiburger Immoralisten unter der Regie von Manuel Kreitmeier noch einmal zugespitzt zu sein. Seinen ersten Partyauftritt im eigenen Anwesen am fiktiven Ort West Egg auf Long Island absolviert Sebastian Ridder in einer Warhol-Perücke und weißem Pelz. Mehr Glamour geht fast nicht. Das also ist der Mann, der sich seit zehn Jahren nach seiner Jugendliebe Daisy verzehrt, die auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht ein sorgenfreies Leben führt an der Seite des Millionärs Tom Buchanan, der sich nimmt, was er braucht? Beim nächsten Auftritt trägt Gatsby sein Haar kohlrabenschwarz und einen flammend roten Blouson, dann erscheint er in einer schneeweißen Uniform, zuletzt in einem beigefarbenen Leinenanzug mit Hut über seinem kahl rasierten Schädel (Ausstattung und Bühne: Kreitmeier). Wer war Jay Gatsby?
Das fragt sich auch Nick, aus dessen Perspektive die von Manuel Kreitmeier und Florian Wetter neu übersetzte Geschichte von Gatsby erzählt wird: Jochen Kruse gibt ihn in Bermudas als naiven jungen Finanzmakler, der in New York für Fitzgerald & Scott arbeitet. Wider Willen gerät er in die moralisch abgründigen Machenschaften der High Society, die sich in Gatsbys Villa mit hohlem Geschwätz und vollen Gläsern die Zeit vertreibt. Die Open-Air-Bühne vor dem Theater der Immoralisten ist ein Swimmingpool (ohne Wasser), eingelassen in rosa Marmor vor einem mit KI hergestellten superkitschigen Prospekt einer in Bonbonfarben glänzenden Strandlandschaft – das passende Ambiente für die Schönen und Reichen in Gatsbys Dunstkreis. Allen voran der kotzbrockige Tom Buchanan in patriotischer Badehose, der in Thomas Kupczyk eine hinreißend widerliche Verkörperung findet. Ihm an der Seite marilynblond die fabelhafte Chris Meiser als Luxusweibchen Daisy mit einer, so Fitzgerald, „Stimme voller Geld“. Schön, dass auch die Stimme des Autors sich (im Voiceover durch Burt Reynolds) dann und wann vernehmbar macht: Denn dieser Roman, in dem jedes Wort sitzt, hat Fitzgerald zu Recht weltberühmt gemacht.
Die Immoralisten widmen sich zum zweiten Mal dem Stoff – mit größtem Gewinn. Das präzisere Eindringen in den Text bringt einen gelasseneren, mitunter auch komischen Ton. Kaum jemals ist eine Open-Air-Produktion des Ensembles so stimmig gewesen wie diese. Erheblich trägt dazu der Soundtrack von Florian Wetter bei, der den amerikanischen Jazz der frühen und späteren Jahre mit eigensinnigen Synthesizerklängen mischt. Ganz wunderbar anzuhören, zwischen Easy Listening und Melancholie.
Wenn der aus mittellosen Verhältnisse stammende Gatsby, der im Krieg Dienst getan hat und auf nicht ganz legale Art und Weise danach zu Geld gekommen ist, und die verwöhnte Daisy erstmals wieder aufeinandertreffen, gibt es eine in ihrer Mischung aus Hilflosigkeit und Protzerei anrührende Szene, wenn Gatsby der Angebeteten wie in Ekstase seine opulente Hemdensammlung zeigt, während Nick am Fuß der Kleiderstange sitzt und warnt: Man könne nicht zehn Jahre ungeschehen machen.
Doch genau das versucht Gatsby. Seine Vorstellungen waren über alles Reale hinausgewachsen, heißt es an einer Stelle. Aus einem grandiosen Showdown, in dem Daisy betrunken buchstäblich zwischen den beiden Männern schwankt, geht Buchanan als unangefochtener Sieger hervor. Jeder Satz ein Hieb. Packend. Auch der Rest des für Immoralisten-Verhältnisse großen Ensembles überzeugt auf der ganzen Linie: Verena Huber, Burkhard Siegfried, Andreas Hall und Lennart Katz in einer männlich-weiblichen Doppelrolle. Dieser große Gatsby ist ein großer Wurf.
Bildnachweis: Copyright Theater der Immoralisten





