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„El Chapo“ – Drogenkrieg in Mexiko

Im Gespräch: Der Journalist  Malcolm Beith über sein Buch „El Chapo“

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalisten. Zu diesem Schluss kommt die Organisation Reporter ohne Grenzen in ihrem Jahresbericht 2011. 69 Journalisten, die seit dem Jahr 2000 ermordet wurden, gehen auf das Konto der Drogenkartelle. Elf Reporter werden vermisst. Insgesamt forderte der Drogenkrieg in Mexiko seit Ende 2006 rund 28.000 Opfer. Journalisten stehen zwischen allen Fronten: Sie stören die Drogenmafia sowie korrupte Polizisten und Politiker, die auf vielen Ebenen mit den Kartellen zusammenarbeiten. Der investigative Journalist Malcolm Beith berichtet in seinem 2011 erschienenen Buch „El Chapo“ über die Hintergründe. Olaf Neumann traf ihn an einem vermeintlich sicheren Ort – in Berlin.
Kultur Joker: Mr. Beith, Sie arbeiten u.a. für Newsweek, die Times, die Sun und die Financial Times Gruppe. Was interessiert Sie am mexikanischen Drogenkrieg?
Beith: Ich wollte herausfinden, was junge Menschen dazu bringt, mit Drogen zu handeln. Natürlich das Geld. Aber hätten sie auch andere Möglichkeiten? Ich habe von 2007 bis 2009 in Mexiko City gelebt. Für das Buch ging ich an die Fronten des Drogenkrieges: Sinaloa, Tijuana, Tamaulipas, Guadalajara. Ich wollte ein Gefühl dafür kriegen, was dort los ist. Mein Verlag sagte, ich solle mich auf keinen Fall in Gefahr begeben. An meinem ersten Wochenende in Mexiko beschloss ich, einfach ein bisschen in Michoacán rumzulaufen, das damals Zentrum des Drogenkrieges war, und kleinen Dealern Fragen zu stellen. Später fuhr ich nach Sinaloa, wo der Boss der Bosse El Chapo herkommt. In die Bezirkshauptstadt Badiraguato hatte sich bis dahin noch nie ein Journalist gewagt.
Kultur Joker: Weshalb schreibt ausgerechnet ein Amerikaner über den mexikanischen Drogenkrieg?
Beith: Der Vorteil ist, dass ich unvoreingenommen bin und mich deshalb eher auf die Fakten konzentrieren kann. Mexikaner würden darüber viel leidenschaftlicher schreiben, weil ihnen der Abstand fehlt. Außerdem riskiere ich viel weniger als ein mexikanischer Journalist. Für den wäre solch ein Buch lebensgefährlich. Für die Kartelle lohnt es sich nicht, mich zu entführen. Das würde nur die Aufmerksamkeit der amerikanischen Behörden auf sie lenken. Ich bin auch nicht so weit gegangen, dass ich Korruption unter Politikern in Sinaloa aufdecken wollte. Dann hätte man mich garantiert bedroht. Ich wollte eher beschreiben, was dort passiert, als etwas enthüllen. Das war für mich persönlich viel sicherer.
Kultur Joker: In Mexiko sind seit 2000 fast 70 Journalisten ermordet worden. Warum riskieren Ihre Kollegen trotz allem ihr Leben?
Beith: Das ist eine wirklich tragische Geschichte. Vor 15 Jahren gab es in Mexiko noch keine freie Presse. Heute hingegen ist theoretisch alles erlaubt, aber die Narcos beschneiden die Pressefreiheit wieder. Die Journalisten kämpfen für ein demokratisches Mexiko, deshalb hören sie mit ihrer Drogenberichterstattung nicht auf. Sie riskieren ihr Leben. Jeden Tag. Das ist furchtbar, aber es ist letztendlich richtig.
Kultur Joker: Gab es dennoch gefährliche Situationen für Sie?
Beith: Ein paar, ja. Aber ich will das nicht aufblasen. Einmal richteten Polizisten ihre Waffen auf mich und machten deutlich, dass sie durchaus auch abdrücken würden. Sie wirkten auf mich wie betrunkene Studenten mit Maschinenpistolen. Als Fremder fühlt man sich in Badiraguato sehr unbehaglich. Aber umgebracht hat man mich nicht. Ich denke, Chapo war über jeden meiner Schritte informiert. Wenn man dort mit Leuten spricht, muss man sehr vorsichtig sein. Man darf eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Wer nicht über Chapo reden wollte, den habe ich auch nicht gedrängt. Um andere nicht zu gefährden, hatte ich meinen Notizblick nicht ständig gezückt. Es sollte so aussehen, als sei ich nur ein neugieriger Tourist. Auch würde ich niemals eine Waffe tragen. Das würde mich mehr gefährden als andere. Mit lokalen Journalisten habe ich nur ab und zu gearbeitet, so konnte ich freier sein und mein Handeln hatte weniger Auswirkungen.
Kultur Joker: Am 19. Januar 2001 gelang Joaquín Guzmán alias El Chapo die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Puente Grande in einem Karren für die schmutzige Wäsche. Seither fehlt von Mexikos mächtigstem Drogenbaron jede Spur. Wie steht es um El Chapo heute?
Beith: 2007 ging auf den Straßen das Gerücht um, Chapo sei am Ende. Das wollte ich genauer wissen. Also begann ich, mich intensiv mit seiner Lebensgeschichte zu beschäftigen. Bald wurde mir klar, dass er vielleicht alt geworden, aber noch sehr lebendig ist. Chapo hatte immer Verbündete, er hat Kriege geführt und stets die richtigen Entscheidungen getroffen, um zu überleben. In diesem Drogenkrieg wird er der letzte sein, der noch aufrecht steht. Keine Ahnung, ob das seinem Glück oder seinen analytischen Fähigkeiten zu verdanken ist. 2009 wurde in den USA darüber beraten, wie man Chapo fest setzen könnte, vorletztes Jahr traf ich den zuständigen Generalstaatsanwalt. Er hat mir bestätigt, dass es Chapo nach wie vor gut geht. Davon abgesehen wird der Drogenhandel auch nach seinem Tod weitergehen.
Kultur Joker: Was zeichnet El Chapo aus?
Beith: Chapo ist der letzte seiner Art. Seine Methoden wirken in der Drogenwelt von heute altmodisch. Zum Beispiel tötet er nur dann, wenn es aus seiner Sicht wirklich nötig ist. Mit den Massengräbern, die man in Mexiko immer wieder findet, hat er nichts zu tun. Es sind eher die Jungen, die ihre Gegner auf grausamste Weise töten, ihnen zum Teil die Köpfe abschneiden. Die so genannten Narcos haben noch nicht einmal Respekt vor den Gesetzen der Unterwelt.
Kultur Joker: Ist El Chapo von den Kartell-Bossen also das kleinere Übel?
Beith: Es wäre lächerlich, zu sagen, dass er ein netter Kerl ist. Er hat schließlich hunderte Menschen getötet. Aber er ist berechenbarer als andere. Chapo hat verstanden, dass die Drogen vor allem ein Geschäft sind. Er macht das nicht, um Menschen zu terrorisieren. Viele Mexikaner leben im Terror. Sie haben große Angst. Jeden Tag werden Leute geköpft oder erschossen und einfach auf der Straße liegen gelassen. Dies passiert vor den Augen von Kindern, die auf dem Weg zur Schule sind. Chapo würde das nicht machen. Ihm geht es hauptsächlich darum, die Drogen auf dem besten Weg in die Vereinigten Staaten zu schmuggeln. Je unauffälliger er vorgeht, desto weniger hat er das mexikanische Militär zu befürchten.
Kultur Joker: Wird die Gewalt völlig ausufern, wenn El Chapo nicht mehr am Ruder ist?
Beith: Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Die Behörden hoffen, die Gangs irgendwann besser kontrollieren zu können und dass die Massaker eines Tages ein Ende haben werden. Wenn El Chapo und sein engster Verbündeter El Mayo alias Ismael Sambala stürzt, wird die Gewalt erst einmal explodieren. Aber die Gangs werden danach wahrscheinlich besser zu kontrollieren sein.
Kultur Joker: Wie erfolgreich sind die Behörden beim Kampf gegen die Kartelle?
Beith: Den Behörden ist es in den letzten Jahren gelungen, alle Kartellbosse mit Ausnahme von El Chapo zu schnappen. Natürlich sind sofort neue Köpfe nachgerückt. Da man El Chapo, El Mayo und El Azul nicht habhaft werden kann, will man sich ihre Stellvertreter holen. Sie werden Leutnants genannt. Wer möglichst viele Morde auf dem Kerbholz hat, steigt in der Hierarchie eines solchen Systems auf. Sollte El Chapo den Behörden also ins Netz gehen, wird sein Kartell in der Struktur geschwächt sein.
Kultur Joker: Mancherorts ist ein Auftragsmord bereits für 35 Dollar zu haben. Allein in Ciudad Juarez, der „mörderischten Stadt der Welt“, wurden allein 2010 rund 5000 Menschen getötet. Opfer werden zerstückelt, enthauptet, verbrannt oder in Säure aufgelöst. Was ist der Grund für die Brutalität und den Hass zwischen den Kartellen?
Beith: Solange die Geschäfte laufen, massakrieren sie sich nicht gegenseitig. Sobald aber der Druck steigt, fließt Blut. Im Moment werden die Drogenleute von den Behörden massiv verfolgt. Weil sie Angst haben, ihre Macht und ihr Territorium zu verlieren, reagieren sie auf Bedrohungen mit äußerster Brutalität. El Chapo ist genau zu dem Zeitpunkt in Ciudad Juarez eingezogen, an dem das Militär versuchte, das lokale Juarez-Kartell mit Gewalt zu vertreiben. Es geht dabei aber nicht um Hass, es ist nichts Persönliches. Es geht ausschließlich ums Geschäft. Drogenleute können nicht vor Gericht ziehen, sie fechten Streitigkeiten auf der Straße aus – mit Waffen. Mit dieser unbeschreiblichen Gewalt wollen die Gangs zeigen, was ihren Gegnern droht. Das ist psychologische Kriegsführung in ihrer kränksten Art.
Kultur Joker: Niemand wird als Killer geboren. Was führt dazu, dass die Narcos im Drogenkrieg keine Hemmungen und keine Grenzen mehr kennen?
Beith: In meinem Buch zitiere ich einen Psychoanalytiker aus Sinaloa. Er glaubt, dass in jedem Sinaloenser etwas von einem Killer steckt. Das halte ich für übertrieben. Manche Jugendliche, die sich den Narcos anschließen, haben ein Kampf-Gen. Sie wollen aufsteigen, das ganz große Geld verdienen. Sie töten nicht von Natur aus. Würde man ihre Fähigkeiten anders kanalisieren, könnten sie wahrscheinlich an der Wallstreet Karriere machen. Oder in die Politik gehen. (lacht) Mexiko ist nicht weniger zivilisiert als andere Länder. Wenn man über Mexikos Citys Prachtstraße Paseo de la Reforma schlendert, kommt man an dutzenden multinationalen Banken vorbei. So sieht nicht die Dritte Welt aus.
Kultur Joker: Vor elf Jahren siegte in Mexiko die Demokratie.
Beith: Richtig, aber der Drogenkrieg macht allen Fortschritt wieder zunichte. Ciudad Juarez wurde 2007 vom FDI Magazin, das der Financial Times gehört, zur Stadt der Zukunft ernannt. Heute ist es der Vorhof zur Hölle. Dort gibt es mehr Mord und Totschlag als in Bagdad. Das ist ein riesiger Schritt zurück. Mexiko insgesamt entwickelt sich kontinuierlich, aber es gibt halt diese Ecken, die gerade auseinanderfallen.
Kultur Joker: Sind Handel und Anbau von Drogen vor allem eine Reaktion auf Armut und Hunger?
Beith: Im Bezirk Culiacán kursiert unheimlich viel Drogengeld. Die Berge von Sinaloa, wo El Chapo herkommt, sind sehr arm. Die haben dort noch nicht einmal fließend Wasser. Die Leute schlafen auf Lehmfußböden. Sinaloenser sind seit mindestens 50 Jahren im Drogenhandel aktiv. Die ändert man nicht so leicht. Wenn zum Beispiel eine neue Straße von Baraguiato in die Berge gebaut wird, damit die Menschen ihre Waren bequemer in die Städte bringen können, ist das theoretisch eine gute Idee. Aber wofür wird die Straße in Wirklichkeit benutzt? Für den Drogentransport. Auf diese Weise geht es schneller. In Afghanistan gab es Versuche, die armen Opiumbauern aus der Illegalität herauszuholen, indem man den Anbau von Getreide unterstützte. Das hat aber nicht funktioniert. Solche Leute haben keinerlei Rechte. Die können sich nicht einfach von den Chapos dieser Welt lösen.
Kultur Joker: Ist es möglich, El Chapo zu treffen?
Beith: Ich habe es versucht. Keine Ahnung, ob meine Anfrage je bei ihm gelandet ist. Aber was sollte er einem schon erzählen. El Chapos Familie habe ich bei dem Buch weitestgehend außen vor gelassen. Warum sollten sie für seine Sünden büßen? Einer seiner Söhne wurde getötet, gegen die anderen liegen keine Haftbefehle vor. Ich weiß, dass Familienmitglieder in Culiacán leben. Mit seiner Mutter hätte ich gern gesprochen, aber sie ist untergetaucht.
Kultur Joker: Muss sie Racheakte der konkurrierenden Kartelle befürchten?
Beith: Wie bei der Mafia gibt es auch bei den mexikanischen Kartellen Regeln, was die Familienmitglieder betrifft. Sie werden aber manchmal gebrochen, wie man an El Chapos getötetem Sohn sieht. Auch Freundinnen und Ehefrauen sind ermordet worden. Mütter gelten jedoch als unantastbar.
Kultur Joker: El Chapo gilt als äußerst skrupellos. Er lässt Richter, die Drogenbosse verurteilen, ermorden. Hält er sich für den eigentlichen Führer des Landes?
Beith: Den Eindruck habe ich nicht. El Chapo ist nicht wie der Kolumbianer Pablo Escobar, der ins Parlament wollte. El Chapo will einfach nur seine Geschäfte machen, mit seinem Sinaloa-Kartell legt er es nicht auf Krieg an. Das sieht man daran, dass er den Staat nicht attackiert. Zwar attackiert er das Militär, aber nur, wenn es ihm zu nahe kommt.
Kultur Joker: Wie viele gute Polizisten, Beamte und Politiker findet man in Mexiko, wo Bestechung zum allgemein akzeptierten Lebensstil gehört?
Beith: Das größte Problem ist, dass das System selbst korrupt ist und deshalb Korruption fördert. Die wenigen Guten haben unter diesen Bedingungen sehr zu kämpfen. Jeder Politiker oder Polizist hat irgendwann in seinem Leben mal mit den Regeln gebrochen. Die lokalen Polizeichefs lassen sich von den Drogenkartellen schmieren. Aber es wird langsam besser, seit man dazu übergegangen ist, die Korruption mit den Mitteln der Drogenleute zu bekämpfen.
Kultur Joker: In Ciudad Juarez wurden Plakate mit Namen von Polizisten aufgehängt: Wenn sie es wagten, ihren Job zu tun, würde man sie töten. Wie wehren sich die Behörden gegen den Terror?
Beith: In Juarez sprach ich mit einem eigentlich korrekten Polizisten. Er sagte, dass die Drogenleute seine Adresse kennen und er überlege deshalb ernsthaft, die Seite zu wechseln. Was soll man machen? Für mein Buch habe ich versucht, nur mit Cops zu sprechen, die ich für sauber halte. Viele von ihnen haben keine Wahl. Sie sind nicht gierig, sie werden schlicht und einfach bedroht. Gleichzeitig gibt es Leute wie Ramìrez Mandujano. Der oberste Boss der Verbrechensbekämpfungsbehörde soll vom Beltrán-Leyva-Kartell angeblich 450.000 Dollar angenommen haben mit dem Versprechen, diese Summe jeden Monat für Informantentätigkeit zu bekommen. Das wirft kein gutes Licht auf die Behörden, aber auch in den USA hat es ähnliche Fälle gegeben.
Kultur Joker: Hat man versucht, auch Sie zu bestechen?
Beith: Nein. Das hätte auch nichts genützt. Es sei denn, man hätte mir eine Knarre an den Kopf gehalten. Dann wäre ich sicher abgehauen. Als man mir dieses Buchprojekt anbot, hatte ich bereits zwei Jahre lang Artikel über das Drogenthema geschrieben. Ich habe mir überlegt, wie tief ich in diese Welt eintauchen kann ohne dabei mein Leben zu riskieren. Ich war eigentlich mehr besorgt wegen der Leute, mit denen ich für dieses Projekt zusammengearbeitet habe.
Kultur Joker: Auf El Chapos Kopf sind insgesamt sieben Millionen Dollar ausgesetzt. Wie groß ist die Chance, dass er alt und grau wird?
Beith: Ich glaube nicht, dass man ihn je lebend fangen wird. Chapo wird im Kampf sterben. Sollten die Behörden ihn je schnappen, dürfte es schwierig sein, das der Öffentlichkeit glaubhaft zu machen.

Malcolm Beith: El Chapo. Die Jagd auf Mexikos mächtigsten Drogenbaron. Heyne Paperback, 352 Seiten, ISBN: 978-3-453-26731-2, Euro 16,99.