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„Denen, die gelitten haben eine Stimme geben“

Eine historische Dokumentation arbeitet die Vergangenheit der Waisenhausstiftung Freiburg auf

Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen und Heimen, der in den vergangenen Jahren endlich an die Öffentlichkeit drang, warf auch für die hiesige kommunale Waisenhausstiftung viele Fragen auf. Eine Antwort auf das „Wie war es denn bei euch?“ versucht nun eine historische Dokumentation zu geben.

Die Stiftung beauftragte den Wissenschaftsjournalist Dirk Schindelbeck Licht ins Dunkel zu bringen und Geschichte und Pädagogik des Waisenhauses vom 14. Jahrhundert bis hin zur Dezentralisierung des Heimes 1985 aufzuarbeiten.

Das Ergebnis ist ein 175 Seiten langes Buch mit dem Titel „Das wirst du nicht mehr los, das verfolgt dich ein Leben lang!“. Anderthalb Jahre Arbeit stecken dahinter, die sich aufgrund der verheerenden Aktenlage maßgeblich auf Zeitzeugenberichte stützt. Besonders in den Blick genommen wird daher auch die Nachkriegszeit.

Und die Befürchtungen haben sich bestätigt: auch vor dem idyllisch gelegenen Waisenhaus im Günterstaler Kloster machte der Missbrauch nicht Halt. Auf einen Presseaufruf im Mai 2012 meldeten sich rund 90 Zeitzeugen, die zwischen den 40er und 80er Jahren im Waisenhaus untergebracht waren. Einige verbrachten nur wenige Wochen, andere ihre ganze Kindheit und Jugend in dem Heim. Was sie dem Autor berichteten, war häufig erschreckend. Psychische und physische Übergriffe waren auch in Günterstal an der Tagesordnung. „Viele sprachen zum ersten Mal über ihre Erlebnisse. Die Erleichterung endlich über die Geschehnisse reden zu können, war bei manchen unverkennbar“, berichtet Schindelbeck.

Ab 1894 war das Waisenhaus der Stadt im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster in Günterstal untergebracht. Seither führten die katholischen Vincentinerinnen das Regiment, die unter der Kontrolle des Ordens standen, Träger der Einrichtung war weiterhin die Stadt. Zwischen 1945 und 1985 standen schätzungsweise 2000 bis 2500 Heimkinder unter der Obhut der Ordensschwestern. Diese Schwestern waren praktisch zum Nulltarif zu haben. Ohne Ausbildung, häufig vom Land stammend, waren sie in einem oft katastrophalen Betreuungsverhältnis für Jungen und Mädchen zwischen 4-16 Jahren, in Ausnahmen auch jünger, zuständig. Später wurde zusätzliches weltliches Erziehungspersonal, die sogenannten Tanten, eingestellt. Ein hohes Maß an Frustrationstoleranz sei für diese anstrengende Arbeit nötig gewesen, gibt Helmut Roemer, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe der Waisenhausstiftung, zu bedenken. „Und nicht alle haben die nötige Reife gehabt.“ Dies ist selbstverständlich keine Entschuldigung, nur eine mögliche Erklärung.

Nicht alle Schwestern haben missbraucht und nicht alle Kinder haben ihren Heimaufenthalt ausschließlich negativ in Erinnerung. „Auch die gleichen Personen und Ereignisse wurden von unterschiedlichen Zeugen sehr verschieden erlebt“, bringt Schindelbeck seine Überraschung zum Ausdruck. „Die Verantwortlichen bei Kirche und Träger haben sich nicht mit Ruhm bekleckert“, macht Stiftungsdirektor Lothar Böhler jedoch deutlich. „Viele sind für ihr Leben gezeichnet. Die Dinge müssen auf den Tisch.“

Eine repressive Grundatmosphäre habe im Heim geherrscht, bei den Jungen noch mehr als bei den Mädchen. „Man hat uns mit körperlicher und seelischer Gewalt kleingehalten und entmündigt, auf Anpassung und Gerhorsam getrimmt“, berichtet der Zeitzeuge Michael D., der in den 50er Jahren in Günterstal war. Dabei waren nicht nur die Schwestern, sondern auch Bedienstete wie der Hausmeister am Missbrauch beteiligt. Und selbst unter den Zöglingen kam er vor. Das stark hierarchische System traf die schwächsten Glieder am härtesten und je größer die Machtasymmetrie, desto einfacher der Missbrauch. Haben die Kinder doch einmal von den Schrecken erzählt, mussten sie es auf andere Weise wieder ausbaden oder wurden ignoriert. „Du wirst wohl Schuld gehabt und es verdient haben“, war etwa die Reaktion auf eine Beschwerde, erinnert sich eine Betroffene.

Angefangen von diffamierenden Verbal-Attacken, über die Androhung körperlicher Züchtigunsmaßnahmen, verschiedene Demütigunsrituale vor Publikum, Wegsperren in dunklen Räumen, bis hin zu Schlägen mit Körperteilen oder Hilfsmitteln und gewaltintensiven Praktiken beim Essen, war der Katalog der Strafen lang und angsteinflößend. Sexuelle Übergriffe wurden nur sehr vereinzelt geschildert, Übergriffe in die Intimsphäre wiederum, wie etwa das Waschen von Jungen im bereits pubertären Alter durch die Schwestern, waren alltäglich. Als besonders bedrückend schilderten die Zeitzeugen auch die Unberechenbarkeit der Züchtigungen, auch prophylaktische Schläge Aller zur Ruhigstellung kamen vor.

In seinem Buch arbeitet der Autor in 14 Kapiteln die wichtigsten Aspekte des Heimlebens aus den Zeitzeugenberichten über die Nachkriegszeit heraus. Vom oft als „tiefste Kastrophe“ erlebten Einweisungserlebnis, über den Gewalt-Alltag, Arbeit und Schule bis hin zur Entlassung und ihren Folgen. Ein weiteres Buch mit Einzelporträts der Zeugen ist geplant.

Warum so lange niemand etwas gegen die Gewalt im Waisenhaus unternommen hat, wieso es keine Kontrolle der Schwestern von öffentlicher Seite gab, ist heute kaum nachvollziehbar. Viel wurde unter der Decke gehalten, zum Verstummen gebracht, ignoriert. Erst in den 70er Jahren kam es zu Strafanzeigen, eine führte schließlich zur Verurteilung. 1975 lösten Erzieher die Nonnen in Günterstal ab, nachdem heftige Übergriffe Polizei und einige Eltern aufrüttelten. In die Öffentlichkeit drang trotzdem nichts von den Vorfällen. Finanzielle Gründe wurden für den Abzug der Nonnen genannt. 1985 wurde das Waisenhaus schrittweise dezentralisiert, die Kinder in kleineren Wohngruppen an verschiedenen Stellen untergebracht und der individuelle Hilfebedarf ins Zentrum gestellt.

Nach jahrzehntelanger Vertuschung sei es, so Stiftungsdirektor Böhler, nun endlich an der Zeit, sich der Verantwortung zu stellen. Er hat sich im Namen des Trägers offiziell bei den Betroffenen entschuldigt. Die Erzdiözese sieht sich jedoch bis heute nicht für die Aufklärung der Vorfälle in Günterstal zuständig. Vereinzelt habe es von kirchlicher Seite Hilfestellungen gegenüber ehemaligen Heimkindern gegeben.
Die Aufarbeitung der Geschehnisse im Freiburger Waisenhaus ist keineswegs abgeschlossen. Deutlich ist jedoch geworden, dass es jahrzehntelang an Ressourcen finanzieller, personeller und pädagogischer Art mangelte, soziale Probleme weggeschlossen und ignoriert sowie Machtpositionen ausgenutzt wurden. Leidtragende der katastrophalen Zustände waren die Heimkinder, denen heute endlich Gehör geschenkt werden soll. Auch für die Zukunft gelte, so Helmut Roemer, dass „die bekanntgewordenen Vorfälle Auswirkungen auf unsere Arbeit haben müssen, damit sich das nicht mehr wiederholt.“

Das Buch von Dirk Schindelbeck „Das wirst du nicht los, das verfolgt dich ein Leben lang!“ – die Geschichte des Waisenhauses in Freiburg-Günterstal ist für 18 Euro in den Buchhandlungen Schwannhäuser und Schwarz, im Kloster Günterstal und bei der Waisenhausstiftung erhältlich.

Pia Wetzl

Bildquellen

  • 09_Waisenhaus-300×195: Sommerfest im Waisenhaus (50er Jahre), Foto: promo

3 Gedanken zu „„Denen, die gelitten haben eine Stimme geben“

  • Edeltraud Holzhauser

    Auch ich war zusammen mit meinem Bruder in Günterstal untergebracht etwa von1960. bis 1968 ,wir wurden sehr streng erzogen ich war damals noch sehr klein und kann mich auch nicht mehr an alles erinnern,aber bei meinem Bruder war eine Tante Anna und die war sehr streng,ich selbst war in der kleinen mädchengruppe bei Tante Hedwig auch an Tante Ute bei den Kleinen kann ich mich noch sehr gut erinnern .was ich noch weiss ist das es eine bettnässerstube gab und es nicht leicht war ,man wurde vor allen plamiert wenn es wieder mal passiert war .Es gab aber auch schöne Zeiten ,etwa der Ausflug zum Feldberg und nachher bekamen die Kinder Spielsachen geschenkt.und Fasching wurden sehr viele Kostüme genäht.Was uns fehlte war Liebe niemand nahm dich in den Arm .Ich denke oft an diese Zeit zurück mit einem weinenden und lachendem Auge.
    Mfg Edeltraud Holzhauser damals Bieda

  • Christa Angelika Fischer

    With disgust I hear all about the story of Das waisenhaus in Guenterstal. I have been working there from Oct 1975 till July 1977.
    As educators we tried our best. We created bicycle shops and made tours, visited youth hostels, it is so easy to pull everything into a negative side.
    I have pictures which show happy children.
    This is just my first response I will write in German w.hen I have read your book. die Geschichte in Freiburg Guentersxtal.
    Goal of my writing, to keep things in balance, the negativism is often a mixture of the life they have lived before they entered the waisenhaus. I was very engaged in my work there, as it took me many years to restore my health agaiN.
    Sincerely,
    Christa Fischer

  • Hörner

    Ich war von 1951 – 1955 im Waisenhaus in Günterstal. Habe allerdings nicht sehr viele Erinnerungen. Ich hatte Glück, eine sehr nette und gütige Betreuerin zu haben. Ich weiß nur, dass ich einmal von der Schauckel viel, und mehrere Tage im Bett bleiben mußte.
    Was ich allerdings nicht für gut befand, war die Abgabe an Pflegefamilien. So wie es mir ergangen ist. Ich kam in eine Pflegefamilie, die in mir eine gute Möglichkeit sah, so eine günstige Arbeitskraft zu bekommen.
    Mit meinem Einzug in mein neues Zuhause, kaufte meine Pflegemutter nicht mehr ein, das war dann meine Aufgabe. Mein Pflegevater hielt sich bis zu 80 Kaninchen, die ich jeden Samstag ausmisten und täglich das Kanichenfutter mit einer Sichel und Handwagen holen mußte. Meiner Pflegemutter im Garten zu helfen und Steine, Unkraut auflesen und mit den Handwagen zu Schuttplatz zu bringen.
    Das tollste war, daß anfangs regelmäßig vom Jugendamt eine Dame kam und nachsah ob alles in Ordnung war, nur von mir wollte Sie nicht wissen.

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