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„Zuflucht auf Zeit“ – die Niederlande zwischen 1933-1945: Innovative Recherche der Historikerin Christine Kausch

Das Interesse am Schicksal der jüdischen Bevölkerung während und nach der NS-Zeit war in den Niederlanden weniger verbreitet als etwa in Frankreich oder Deutschland; zudem fehlte es an öffentlicher Anerkennung der Tatsache, dass sich die Erfahrungen der holländischen Juden von anderen Bevölkerungsgruppen unterschieden, auch wenn diese ebenfalls schwerer Not und Strapazen ausgesetzt waren. Über Hunderttausend jüdische Personen wurden deportiert; und die wenigen, die nach 1945 zurückkamen, sahen sich kaum freundlich empfangen. Zwar gab es lokale Erinnerungsinitiativen, aber ein staatliches Eingeständnis von Unrecht erfolgte erst im Jahr 2020 durch Ministerpräsident Rutte, also drei Generationen später. Nun ist in Amsterdam zudem ein historisches Museum eröffnet worden, das sich eine umfassende Aufklärung der NS-Zeit zum Ziel gesetzt hat. Bekannt ist nämlich vor allem die Flucht- und Verfolgungsgeschichte von Anne Frank, die 1934 mit ihren Eltern aus Deutschland in die Niederlande emigriert war, die Gesamtsituation des Landes blieb jedoch unterbelichtet.

Rückblick auf das Land der Hoffnung
Mehrere Aspekte dieses Mankos behebt die Historikerin Christine Kausch mit ihrer Untersuchung „Zuflucht auf Zeit. Juden aus Deutschland in den Niederlanden 1933-1945“; sie nimmt das Leben der Flüchtlinge in den Jahren 1933 bis 1945 in den Blick und analysiert auf der Basis hunderter Dokumente und Quellen die individuellen und kollektiven Erfahrungen von Personen, die damals nach Holland geflüchtet waren; sie untersucht, wie diese aufgenommen wurden, erneute Verfolgung erlebten und darauf reagierten oder reagieren konnten. Die Studie bietet damit einen wichtigen Beitrag zur jüdischen, niederländischen und deutschen Geschichte, gibt einen Überblick zur holländischen Flüchtlingspolitik und zu den Hindernissen einer sozialen Eingliederung für Emigranten. Des Weiteren differenziert Christine Kausch das Leben in der „Emigrantengesellschaft“ nach Berufszweigen; etwa war die Lage von AkademikerInnen und WissenschaftlerInnen eine andere als die von Personen, die im Bereich Industrie und Handel arbeiteten. Ein Kapitel untersucht die für Frauen spezifischen Sektoren: „Dienstmädchen, Schneiderinnen und Pensionsbesitzerinnen“. Eigens wird auch der Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nachgegangen und schließlich werden „Sozialer Abstieg, Verarmung und Unterstützung“ aufgezeigt. Zudem geht es um die „Suche nach Auswegen“, atemberaubenden Rettungswiderstand und verzweifelte Versuche unterzutauchen. Jedes Kapitel schließt mit einer treffenden Zusammenfassung.
Die Niederlande waren für deutsche Juden während des Nationalsozialismus zunächst ein Land der Hoffnung, die antisemitische Politik des „Dritten Reiches“ veranlasste in den 1930er-Jahren Hundertausende Juden zur Flucht aus Deutschland; die Nachbarländer Holland und Belgien gehörten nach den USA, Palästina, Frankreich und Großbritannien zu den wichtigsten Exilländern; man denke z.B. an Fritz Landshoff, der 1933 in Amsterdam die Exil-Abteilung des Querido-Verlags aufbaute und viele Autoren betreute. Bald wurden die Erwartungen der Geflohenen jedoch enttäuscht, viele fanden weder Arbeit, noch Wohnmöglichkeiten und versuchten weiter zu ziehen. Diejenigen aber, die aus unterschiedlichen Gründen diesen Schritt nicht gehen konnten, d.h. über 15.000 Personen, sahen sich seit den Novemberpogromen 1938 zunehmend isoliert; ab diesem Zeitpunkt werden illegal eingereiste Flüchtlinge verhaftet und in Lager eingewiesen. Vor allem nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 geraten sie ins Visier der Besatzer und sind erneut der Verfolgung ausgeliefert.

Das Widerstandmuseum in Amsterdam © Verzetsmuseum Amsterdam

Deutsche Besatzung 1940
Das Lager „Westerbork“ diente ab 1938 zunächst der Aufnahme von Flüchtlingen, nach Beginn der Besatzung am 15. Mai 1940 stieg die Zahl der Insassen kontinuierlich an; im Oktober 1941 wurde der Ort von den Nazis zum „Auffang-Lager“ erklärt. Stetig werden neue Personengruppen zwangseingewiesen und zusätzliche Baracken eingerichtet; das Essen war erbärmlich, die Post unterlag scharfer Kontrolle. Niederländische und deutsche Juden erhielten unterschiedliche „Behandlung“ und „Westerbork“ wird nun zu einem deutschen KZ in den Niederlanden umfunktioniert. Deportationen waren anfangs als „Arbeitseinsatz in Deutschland“ verschleiert, es herrschten perfide Methoden, aber die Menschen hatten keine Wahl; so bestand die „täuschende Atmosphäre eines heilen jüdischen Städtchens mit einer funktionierenden Infrastruktur, Kabarett, Sportübungen und einem Krankenhaus“, schreibt die Historikerin Anna Hájková.

Anfang und Ende eines verbrecherischen Albtraums
Die Niederlande befanden sich bis zum 5. Mai 1945 unter deutscher Besatzung. Zwar hatte das Land nach Beginn des Zweiten Weltkriegs seine Neutralität erklärt, war aber dennoch von der Wehrmacht angegriffen worden. Königin Wilhelmina floh nach London ins Exil, die niederländische Regierung kapitulierte am 17. Mai 1940, nachdem Rotterdam bombardiert und Middelburg zerstört worden waren. Die Deutschen ernannten einen Reichskommissar (Arthur Seiß-Inquart) und infiltrierten die Verwaltung. Dem anfangs harmlos wirkenden Vorgang folgte ab Februar 1941 eine brutale Gleichschaltung; Juden wurden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und mittels Razzien aufgespürt; zwar formierte sich danach erster Widerstand gegen die Besatzer, doch bereits ab Juli 1941 wurde ein Großteil der jüdischen Bevölkerung in den NS-beherrschten Osten verschleppt und meist ermordet. Zu diesem Zeitpunkt unterstand das Durchgangslager Westerbork nicht mehr dem niederländischen Justizministerium, sondern dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und dem SD in Den Haag; ab Sommer 1942 ging es über „Westerbork“ in die KZs Bergen-Belsen, Theresienstadt, Sobibor, Auschwitz. 102.000 der 140.000 Juden, die das Land zu Beginn der deutschen Invasion zählte, werden Opfer der Shoah.
„Insgesamt wurden rund 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung ermordet. Prozentual kamen deutlich mehr Juden aus den Niederlanden ums Leben als aus anderen west- oder nordeuropäischen Ländern. In Frankreich lag die Todesrate etwa bei 25 Prozent, in Belgien und Norwegen bei jeweils 40 Prozent“, resümiert Christine Kausch. Zudem ruft sie dem Leser die Gesamtsituation des besetzten Landes in Erinnerung: Ab 1943 verstärkten sich Proteste. Nach Landung der Alliierten in der Normandie (6. Juni 1944) wurden die Niederlande zum Frontgebiet und die Zivilbevölkerung stark geschädigt. Nach einem Eisenbahner-Streik schränkten die Besatzer die Lebensmittelversorgung ein, tausende Niederländer verhungerten; erst am 5. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht in Nordwesteuropa. Nur wenige überlebten das KZ Westerbork, darunter z.B. die Zeitzeugin Eva Weyl als Kind, deren Mutter aus Freiburg stammte. Christine Kausch geht auch auf die bekannte Verfolgungsgeschichte von Anne Frank ein, mit der sich die Gefahr der Instrumentalisierung der Shoah verbindet, wie sich in letzter Zeit gezeigt hat, als diese nämlich verharmlosend mit aktuellen Ereignissen verknüpft wurde, indem sich eine Elfjährige auf einer Demo mit Anne Frank verglich, da sie wegen Corona-Kontaktbeschränkung leider nicht wie üblich Geburtstag feiern konnte. Mit „Zuflucht auf Zeit“ wird eine Forschungslücke geschlossen und ein Standardwerk zur Verfügung gestellt.

Christine Kausch. Zuflucht auf Zeit. Juden aus Deutschland in den Niederlanden 1933-1945. 530 S. Wallstein Verlag 2024

Bildquellen

  • Das Widerstandmuseum in Amsterdam: © Verzetsmuseum Amsterdam
  • „Westerbork“ diente zunächst der Aufnahme von Flüchtlingen und wurde später zu einem deutschen KZ in den Niederlanden umfunktioniert: © HC Kamp Westerbork