Weibliche Handschrift: „Du bist so schön“ an der Staatsoper Hannover
Sie sind fast alle noch da, die Tänzer:innen, die in 2019/20 zum Staatsballett nach Hannover kamen, um mit Marco Goecke zu arbeiten. Nun, da er bekanntlich wegen der Hundekot-Affäre nicht mehr am Hause ist, tanzen sie mit bewundernswerter Energie die Choreografien von wechselnden, international renommierten Gastchoreograf:innen. Unter der besonnenen kuratorischen Leitung des nachgerückten Ballettdirektors Christian Blossfeld (früher Goeckes Vize) arbeiten sie mit vorbildlicher Disziplin weiter – auch ohne ihr künstlerisches Leitbild.
In der aktuellen Produktion „Du bist so schön“ sind drei verschiedene weibliche Handschriften zu erleben: Den Anfang macht die Portugiesin Liliana Barros mit „Archium“. Der Titel (Archiv) verweist auf etwas, das alle Lebewesen – vom kleinsten Organismus bis hin zu uns Menschen – durch eine zentrale Erbinformation verbindet. Auf der Bühne befindet sich ein metallisches Objekt, das die Choreografin wie eine uralte DNA-Struktur der Menschheit interpretiert. Auf diesem Gerüst sitzt und hängt die Compagnie wie eine futuristische Gruppe in neongrünen Ganztrikots. Ganz langsam kommen sie in Bewegung und entwickeln einen faszinierenden Tanz, der sich aus einer Verbindung von archaischen, animalischen und tänzerischen Motiven ergibt. Dies zu einer elektronischen Soundcollage von Martin Mitterstieler, die hier zusammen mit der Choreografie ihre Uraufführung erlebt. Das Publikum wird hineingezogen in einen kollektiven, mysteriösen Tanz von großer Intensität. Ein sehr artifizielles, gelungenes Projekt!
Im zweiten Teil dann „Busk“ von der Kanadierin Aszure Barton, die ihre Choreografie in Hannover in einer Kurzversion präsentiert. Das Thema: Der Künstler, seine Darbietungen und seine Beziehung zum Publikum. Dabei bezieht sie sich auf die Straßenauftritte mit Tanz, Musik und Jonglage (to busk) von freischaffenden Künstler:innen, die so auf sich aufmerksam machen und hoffen, damit Geld einzusammeln. Bartons energiegeladenes und humorvolles Bewegungsvokabular wirkt – trotz aller Rasanz bei den Auftritten – doch zu anspruchslos, um auf dieses sensible Thema zu verweisen. Ihr Tanz mit zum Teil akrobatischen Szenen ist zwar sehr unterhaltsam, unterschreitet aber insgesamt das Niveau dieser Compagnie. Trotz allem: Großer Applaus. – Manche Choreografien werden eben durch ein gutes Ensemble geadelt.
Als letztes dann „Love“ von Sharon Eyal, eine Wiederaufnahme von 2003 in einer Neubearbeitung für Hannover. Die israelische Choreografin ist die Einzige, der es gelingt, mit ihrem Tanz diesen magischen Moment heraufzubeschwören, den Goethe wohl mit seinem berühmten „Verweile doch, du bist so schön“ meinte und dessen Zitat titelgebend für diesen Ballettabend war.
Eyal hat einen zunächst hart anmutenden Stil: hautenge Trikots, hämmernde Beats, minimalistische Bewegungen und das androgyne Erscheinungsbild der Tänzer:innen können die Zuschauer:innen irritieren. Im Verlaufe der Choreografie entsteht aber ein ganz eigentümlicher Sog: Die Bewegungen der Tänzer:innen lassen die Gruppe zu einem pulsierenden Organismus verschmelzen, immer emotionaler wird der Tanz, begleitet von einem lauten Technobeat. Mit ihren schwarzen Trikots und nackten Beinen präsentieren die Tänzerinnen Kontraktionen, die so stark sind, dass sie sich festhalten müssen. Dann wieder hohe Developpés und vielfach wiederholte Trippelbewegungen. Die Choreografie mäandert in einem ewigen Puls dahin und am Schluss ist man verblüfft, wenn der Tanz zu Ende geht. Zum Song „From a Shell“ von Lisa Germano, der endlos „There is love, there is love to be found“ wiederholt, tanzen der Reihe nach alle Damen in einem Solo ihre Sehnsucht heraus. Besonders eindrucksvoll hier Giada Zanotti, Sandra Bourdais und Marta Cerioli, die sich förmlich zerreissen in ihrem Wunsch nach Liebe. Da hätte man noch gerne die Soli der Männer gesehen – gar nicht zu sprechen von möglichen Duetten. Verweile doch …
Die Compagnie wirkt wie befreit nach dem Drama um Marco Goecke und tanzt mit Leidenschaft und hoher Intensität. Doch würde man ihnen eine neue künstlerische Leitfigur wünschen, die die Entwicklung der einzelnen Tänzerpersönlichkeiten im Blick hat und die für eine innere Kontinuität des Ensembles in der Zukunft sorgt.
Bildquellen
- Sofie Vervaecke, Claudia Gil Cabús, Sandra Bourdais und Marta Cerioli in „Love“ von Sharon Eyal: Foto: Carlos Quezada
- Das Ensemble des Staatsballetts Hannover in „Archium“ von Liliana Barros: Foto: Carlos Quezada