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Weg aus dem Trauma: Das Freiburger Theater glänzt mit einer starken europäischen Erstaufführung von Ellen Reids Oper „p r i s m“ im Kleinen Haus

Ellen Reids Oper „p r i s m“ nach einem Libretto von Roxie Perkins beginnt mit warmen, wohligen Klängen und zieht das Publikum im ausverkauften Kleinen Haus des Freiburger Theaters sofort hinein ins Geschehen. Nach siebzig aufregenden, berührenden, beklemmenden, manchmal kaum auszuhaltenden Minuten (Regie: Sebastian Krauß) entlädt sich die Spannung in stürmischem Jubel, der nicht enden will. Das Theater Freiburg setzt mit dieser europäischen Erstaufführung ein echtes Ausrufezeichen.
In „p r i s m“ – die Leerstellen zwischen den Buchstaben sollen die seelischen Zwischenräume der Protagonistinnen zeigen – stehen die Folgen eines sexuellen Übergriffs im Fokus. Es geht in der 2018 in Los Angeles uraufgeführten, mit dem Pulitzer Prize of Music ausgezeichneten Oper um eine höchst problematische Mutter-Tochter-Beziehung und den Umgang mit Schuld. Dass etwas zerbrochen ist, sieht man schon im Bühnenbild von Ausstatter Sebastian Ellrich. Die beiden Räume der in weiten, weißen Kostümen gekleideten Frauen sind zersplittert, wie aus Scherben zusammengefügt: weiße Wände, scharfe Kanten, Spiegelflächen. Prismen, die das Licht reflektieren und auch Projektionsfläche bieten für mit Livehandykamera gedrehte Bilder (Video: Viktor Sabelfeld). Im linken kauert Cassandra Wright als Tochter Bibi in der Ecke. Im rechten agiert ihre Mutter Lumee, zunächst aufrecht und dominant. Sie hat Bibi mit Tabletten sediert und zelebriert eine heile Welt. Lila Chrisp verkörpert diese präsente, von Schuldgefühlen getriebene, in ihrer Liebe übergriffige Mutter mit jeder Faser. Ihre vom Philharmonischen Orchester Freiburg getragenen melodischen Linien leuchten intensiv. Und wenn sie wie im zweiten Akt eine Kaskade von Flüchen und Schimpfwörtern ausstößt, dann zeigt sie die andere Seite dieser ichbezogenen Frau. Cassandra Wrights Bibi hat Zerbrechlichkeit und Resignation, aber auch Konfrontationslust und Durchsetzungsvermögen. Beide Sängerinnen entwerfen genaue Psychogramme ihrer Figuren mit vielen Nuancen und auch Extremen. Souverän führt Dirigentin Friederike Scheunchen durch den musikalisch komplexen Abend, schlägt exakte Tempoübergänge und entwickelt mit dem kammermusikalisch besetzten Philharmonischen Orchester auch klanglich Besonderes. Der aus dem John Sheppard Ensemble und Studierenden der Freiburger Musikhochschule bestehende, auf beiden Rängen postierte Chor (Einstudierung: Johannes Opfermann) schaltet sich immer wieder als Unterbewusstsein ins Geschehen ein. Aus dem Tutti schälen sich Solostimmen heraus und lösen sich wieder auf im schwebenden Ensembleklang. Der Chor tröstet die Figuren und rüttelt auf.
Im ersten Akt steht die überzuckerte Musik für den Umgang mit Bibis Trauma. Ein Fesselspiel mit Seilen soll Nähe zwischen Mutter und Tochter schaffen, wird aber mehr und mehr zur Bedrohung. Nervöse Pizzicati zeigen die Risse der Oberfläche. Trommelschläge erzählen von Erschütterungen. Im zweiten Akt wird zu elektronischen Beats (Klangregie: Joscha Muschal) die Clubnacht der Tat wieder zum Leben erweckt. Die Mutter im kurzen Glitzerkleid lässt die Tochter allein auf der Tanzfläche. Der sexuelle Übergriff auf der Herrentoilette ist zu hören in aggressiven, zersplitternden Klängen. Bibi bricht zusammen. Im 3. Akt verweigert sie die Tabletten. Sie hat sich ihren furchtbaren Erinnerungen gestellt. „Run!“, ruft der Chor in immer lauter werdenden Wiederholungen. Regisseur Sebastian Krauß lässt Bibi in seiner dichten, psychologisch genauen Inszenierung am Ende die Wand zerschneiden und hindurchgehen ins Freie. Nur Lumee bleibt zurück.

Weitere Vorstellungen: 24.11.24, je 20.30 Uhr. theater.freiburg.de

Bildquellen

  • Cassandra Wright und Lila Chrisp: © Laura Nickel