Gorkis „Wassa Schelesnowa“ und „Die Mutter“ im Theater Freiburg
Die Verhältnisse sind nicht so
Ein Blick auf das Bild an der Wand und wir wissen, woher das Vermögen von Wassa Schelesnowa stammt. Nicht etwa von Ziegeln, Kacheln, Holz und Torf, wie ihr Sohn Semjon das Geschäftsmodell des Familienunternehmens beschreibt. Es beruht auf der Ausbeutung der Arbeiter.
Die Wolgatreidler müssen sich schon sehr in die Gurte hängen, um das Schiff in Bewegung zu setzen. Maxim Gorkis Großvater soll selbst noch Treidler gewesen sein. Einzig durch den prächtigen Goldrahmen ist Ilja Repins Anfang der 1870er Jahre entstandenes Bild kein Fremdkörper im Salon der Schelesnowa (Melanie Lüninghöner). Die Unternehmerin lungert im Animal Print-Kleidchen die meiste Zeit auf einem der beiden Flügel. Die Mutter dreier Kinder ist die Hauptperson in Maxim Gorkis Schauspiel „Wassa Schelesnowa“, „Mutter“ wiederum heißt Gorkis Roman, aus dem Bertolt Brecht ein Lehrstück machte, zu dem Hanns Eisler eine Kantate schrieb.
Beim zweiten Teil dieses Doppelabends wird die Leinwand mit den Wolgatreidlern zu Boden gesunken sein, um dahinter den Orso Chor Freiburg einzurahmen. Es braucht das Bild dann nicht mehr, seine Protagonisten sind aus ihm herausgetreten (Bühnen- und Kostümbild: Viva Schudt). „Die Mutter“ führt mitten hinein in das russische Proletariat.
Zwingend ist es nicht „Wassa Schelesnowa“ und „Die Mutter“ zu einem Doppelabend zu vereinen, Tom Kühnel hat es dennoch getan und damit ein Experiment gestartet, das zu einem Sittengemälde des Russlands des frühen 20. Jahrhundert wird. Natürlich entsteht selbst wenn die Gesellschaft hier aus zwei verschiedenen Perspektiven gesehen wird, immer noch kein dokumentarisches Bild, doch der Wechsel ist reizvoll. Gorki erzählt in „Wassa Schelesnowa“ von der Crux von Unternehmerfamilien: die Eltern haben geschuftet, die Kinder sind degeneriert – Semjon (Jürgen Herold) sieht sich als Teil einer Jeunesse dorée und will lieber nach Moskau, Pawel (Martin Weigel) ist ein Krüppel, Anna (Lena Drieschner) zumindest intrigant.
Die Schelesnowa wird ein Kind um das andere ausschalten, von der Selbstlüge, sie habe ihr Vermögen für andere angehäuft, bleibt wenig. Tom Kühnel greift die Vorhersehbarkeit des Szenarios auf, indem er formalisiert. Die Figuren werden bei ihrem ersten Auftritt durch die eine elektronisch wirkende Stimme vorgestellt, sie gehen zur Kaffeemaschine und nehmen sich einen Kaffee, man verfällt in einen monotonen Singsang. Brechts Verfremdungstheater dürfte damit Genüge getan sein. Gorki zieht alle erdenkbaren Motive heran und insofern korrespondieren die beiden Stücke durchaus miteinander. Da ist der Schwager (Holger Kunkel), der sein Geld aus dem Unternehmen ziehen will, das Hausmädchen (Stefanie Mrachacz), das geschwängert wurde und auf Veranlassung der Familie ihr Kind umbrachte, die gierigen, tumben Schwiegertöchter. Und da ist die intrigante, einsame Patriarchin, der die sehr stark spielende Melanie Lüninghöner eine gute Portion Kaltschnäuzigkeit verleiht.
Die auch von ihr dargestellte Mutter in Brechts Lehrstück entwickelt sich im sozialistischen Sinn. Fragt sie anfangs noch eher treuherzig, was ihr Sohn Pawel (Martin Weibel) so macht. – Er lässt sich für die Sache der Arbeiter gewinnen, druckt Flugblätter und demonstriert. – So übernimmt sie später seine politischen Anliegen. „Die Mutter“ ist in kurze Szenen wie einzelne Schaubilder gegliedert und immer wieder tritt ein Ensemblemitglied zum Mikro und beginnt zu singen (Klavier: Mihai Grigoriu und Johannes Knapp, Orso Chor Freiburg).
Kühnels Inszenierung ist im zweiten Teil durch Bilder und choreografierte Figuren geprägt, deren Anordnung über das jeweilige Verhältnis zur Gemeinschaft erzählt. Und irgendwann wird die Mutter bis hin zu den Strohschuhen als alte, arme Frau gekleidet sein, von der Schelesnowa ist dann nichts mehr zu sehen. Man kennt diese pathetischen Bilder ja durchaus und man weiß, wie „vernünftig“ der Kommunismus wirklich war, doch von Hanns Eislers Musik geht eine große Suggestivkraft aus. Denn nicht zuletzt gemahnt dieser Doppelabend daran, was die Gesellschaft verloren hat: Solidarität und den Glauben, dass alles immer besser wird. Wer sich daran erinnern will, sollte sich diesen Theaterabend unbedingt ansehen.
Weitere Vorstellungen: 8. und 17. April im Kleinen Haus des Theater Freiburg.
Annette Hoffmann