Wärmen am Lagerfeuer
Die Hamburger Elbphilharmonie wurde eröffnet
Der Weg zur Kunst ist steil. Man muss sich schon anstrengen, wenn man zu dem großen Konzertsaal der Hamburger Elbphilharmonie gelangen möchte. Eine geschwungene Holztreppe führt von der öffentlich zugänglichen Plaza hinauf. Und wenn man höher sitzt im steilen Saal, hat man noch viele weitere Stufen zu bewältigen, wählt man nicht den bequemen Weg über die Aufzüge. Man kann auch einfach den Kugellampen folgen, die wie ein Lichtband Orientierung geben.
Die Leuchtstoffröhren, die in den Foyers um den Saal brennen, sind alle auf das Dirigentenpult ausgerichtet, erklärt Jan-Christoph Lindert vom Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron bei der morgendlichen Presseführung. Selbst im Foyer wird die Musik schon inszeniert.
Über die Akustik des großen Saals wurde schon viel geschrieben, bevor überhaupt ein Ton darin erklungen ist. Die perfekte Schalldämmung hat Chefakustiker Yasuhisa Toyota erreicht, indem der zweischalige Saal auf Stahlfedern sitzt und so vom Gebäude abgekoppelt ist. Keine Schiffssirene dringt nach drinnen, kein Trompetenton nach draußen. Im Saalinnern wurden 10 000 Gipsfaserplatten verbaut, deren unterschiedliche Fräsungen die Schallwellen fein verteilen sollen.
Die sogenannte weiße Haut, die eigentlich grau ist und auch optisch einen starken Akzent setzt. Höchste Materialdichte trifft auf maximale Zerstreuung – wie ein Wasserstrahl, der gegen eine Wand spritzt und einen Nebel aus Tröpfchen bildet, erklärt Lindert. Und verspricht, dass dadurch der Höreindruck auf allen 2100 Plätzen gleich sei.
Die Stimmung unter den geladenen Premierengästen ist gelöst. Man lacht und staunt, schaut umher und berührt die eigenartigen Strukturen der Wände, die an steinzeitliche Verkrustungen erinnern. Da kommt auch kein Ärger auf, als sich der Festakt um eine halbe Stunde verschiebt. Wer sechs Jahre auf die Eröffnung der Elbphilharmonie gewartet hat, den können dreißig Minuten nicht mehr aus Fassung bringen. Man schaut nicht hinauf auf die Bühne, sondern hinunter. Selbst die Besucher im Parkett sind auf Augenhöhe mit den Künstlern. Jeder Platz kann von jedem anderen aus erreicht werden. Kein Zuschauer sitzt mehr als dreißig Meter vom Dirigenten entfernt. Das von Intendant Christoph Lieben-Seuter verwendete Bild des Lagerfeuers, um das sich die Menschen scharen, passt gut zu dem Gefühl, das man im Saal empfindet. Bundespräsident Joachim Gauck spricht sinnigerweise von der gefühlten Gemeinschaft, die jedoch die Individualität nicht preisgebe.
Die einzelnen Zuschauerbereiche sind unterschiedlich groß. Wie Rebstöcke liegen sie am Hang. Deshalb nennt man diese Form der Saalgestaltung, die auch in ähnlicher Weise in der Berliner Philharmonie zu erleben ist, Weinberg-Prinzip. Die Masse wird aufgeteilt in kleine Gruppen. Eine Hierarchie ist nicht zu spüren. Geniale Architektur! Aber hält auch die Akustik, was man sich von ihr versprochen hat?
Die ersten Töne lassen aufhorchen. Dirigent Thomas Hengelbrock beginnt den Festakt mit Ludwig van Beethovens Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“. Schon die ersten Akkordschläge springen den Zuhörer an. Der Pauker des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters haut die Impulse mit Holzschlägel auf die Felle. Der Klang ist direkt und klar. Musik als Wachmacher! Auf den geraden, hart gepolsterten Sitzen könnte man sowieso nicht wegdämmern. Die Energie, die sich von der Bühne sofort in den Saal ausbreitet, ist enorm. Auf dem Platz links hinter dem Orchester direkt vor der Orgel klingen auch die Streicher und Holzbläser so plastisch, als würde man sie von vorne hören. Man kann jede einzelne Stimme verfolgen wie sonst in keinem anderen Konzertsaal – und dabei jedes Detail auch beobachten. Kammermusikalische Genauigkeit statt waberndes Pathos. Der erste Eindruck ist überwältigend. Nur das Grundrauschen der Orgel beeinträchtigt an diesem Abend den Hörgenuss auf den angrenzenden Plätzen.
In der Pause herrscht großes Gedränge vor den sechs Bars. Aber die vielen Treppenfoyers und Durchgänge bieten auch Orte, wo man in Ruhe ganz alleine den spektakulären Blick durch die Glaswände genießen kann. Oder man geht gleich ganz hinaus auf die Loggias, auf denen man den Lärm der Stadt hört. Die steife Brise zerzaust die Frisur. An die Kostenexplosion des 789 Millionen Euro teuren Gebäudes möchten die Hamburgerinnen und Hamburger nicht erinnert werden.
„Das ist alles vergessen“, sagt eine Dame und nippt an ihrem Champagnerglas. Oberbürgermeister Olaf Scholz, der 2013 mit neuen Verträgen den gordischen Knoten des Baustopps löste, ging in der Pressekonferenz auch nur kurz auf die Fehlplanungen der Vergangenheit ein und zeigte sich in der Stunde des Triumphs hanseatisch nüchtern.
Für das eigentliche Festkonzert unterzieht Thomas Hengelbrock die Elbphilharmonie einem Crashtest, lotet die Extreme der Dynamik aus und verteilt die Künstler im Saal. Auch hier ist die warme, transparente Akustik zu bewundern, wenn Philippe Jaroussky mit seinem zarten Countertenor, nur von einer Harfe begleitet, den ganzen Saal füllt. Bei den extrem lauten Werken wie Bernd Alois Zimmermanns „Photoptosis“, wo auch noch die Orgel (Iveta Apkalna) zusätzlichen Klang beisteuert, nehmen die Härten zu. Der eher trockene Saal verzeiht nichts. Und man muss höllisch aufpassen, dass man Schlagzeug und Blech nicht zu massiv werden lässt.
Die Kehrseite der Medaille ist nach der Pause noch stärker spürbar. In Richard Wagners „Parsifal“-Vorspiel sind Bläser und Streicher bei den Unisoni häufig nicht deckungsgleich. Da reicht eine Millisekunde Verzögerung – und die Rädchen greifen nicht mehr ineinander. Hier schwächelt das ansonsten sehr genaue und bewegliche Orchester.
Bei der Uraufführung von Wolfgang Rihms routiniert wirkender Auftragskomposition „Reminiszenz. Triptychon und Spruch in Memoriam Hans Henny Jahnn“ hat die Stimme von Pavol Breslik, von hinten gehört, nicht die gleiche Intensität wie die Instrumentalklänge. Auch im Finale von Beethovens 9. Symphonie mit der „Ode an die Freude“ verlieren sich die Stimmen von Hanna-Elisabeth Müller (Sopran), Wiebke Lehmkuhl (Alt), Pavol Breslik (Tenor) und Bryn Terfel (Bassbariton) ein wenig im Raum. Die beiden Chöre von NDR und BR (Einstudierung: Philipp Ahmann) dagegen klingen im Rücken des Klangkörpers durchaus präsent.
Thomas Hengelbrock befeuert mit seinem großen Charisma ein letztes Mal sein NDR-Elbphilharmonie-Orchester. Der Rest ist Freude und Jubel. Hamburg darf zu Recht stolz sein auf das neue Wahrzeichen der Stadt.
Georg Rudiger