Von der Einstimmigkeit zur Ewigkeit
Fabrice Bollons Familienoper „Oscar und die Dame in Rosa“ wird am Freiburger Theater unter der Leitung des Komponisten mit großem Erfolg uraufgeführt.
Eric-Emmanuel Schmitts kleine Erzählung „Oscar und die Dame in Rosa“ ist nicht sehr dramatisch. Ein zehnjähriger, krebskranker Junge trifft auf eine unkonventionelle, ältere Dame, die ihm das Sterben erleichtert, indem sie ihm Lebensfreude schenkt. Oscar erzählt in Briefen an Gott von seinem Schicksal. Und bedankt sich, diesen tapferen Jungen kennengelernt zu haben.
Als Oper kann man sich den Stoff kaum vorstellen – es fehlen echte Konflikte, starke Motive und dramatische Zuspitzungen. Fabrice Bollon hat gemeinsam mit seinem Librettisten und Regisseur Clemens Bechtel dennoch daraus eine Familienoper (ab 12 Jahren) für das Freiburger Theater komponiert – und was für eine! Die manchmal doch etwas betuliche Erzählung gewinnt auf der Opernbühne an Tempo und Witz. Bollons atmosphärisch dichte, klangfarblich raffinierte Musik macht aus den Figuren Persönlichkeiten und haucht ihnen Leben ein. Das ist Theatermusik im besten Sinne – packend und berührend, kommentierend und begleitend.
Librettist Clemens Bechtel behält die Gliederung des Geschehens in Briefen bei, die zu den dünn instrumentierten, leider vom Freiburger Premierenpublikum zerhusteten Orchesterzwischenspielen aus dem Off vorgelesen werden (Josias Grube). Ansonsten gibt es einige erfundene Traum- und Spielszenen, in denen der bunt gekleidete, mit Trikotnummern versehene Kinderchor (Leitung: Thomas Schmieger) immer wieder für Belebung sorgt (Ausstattung: Olga Motta). Seine Oper lässt Bollon aus der Einstimmigkeit beginnen. Erst nach und nach fächert sich der Klang im Orchestergraben auf. Oscar belauscht ein Gespräch, das seine Eltern mit dem behandelnden Arzt Dr. Düsseldorf führen. Kinderwelt und Erwachsenenwelt ist klar getrennt – durch (nicht sichtbare) Stelzen sind Mutter (Sigrun Schell), Vater (Wolfgang Newerla) und Dr. Düsseldorf (Neal Schwantes) fast doppelt so groß wie Oscar, der von Sharon Carty mit klarem, leicht geführtem Mezzosopran ganz lebendig gestaltet wird. Der todkranke Junge, dem wegen der Chemotherapie die Haare ausgefallen sind, ist eine echte Sympathiefigur auf der leeren Bühne, die erst durch die Mitpatienten Farbe gewinnt.
Oma Rosa fährt von der Unterbühne auf und macht gleich mit dem Ausruf „Scheiße, Scheiße“ klar, dass sie eine ganz besondere Oma ist. Eine Oma (der Countertenor Xavier Sabata verkörpert sie mit Witz und Temperament – ohne jedes Tuntengehabe), die mit derben Kraftausdrücken von ihrem früheren Beruf als Catcherin erzählt und Oscar auch mal mit einem erfrischenden „Steh auf, Du fauler Sack“ aus dem Bett holt. Dem Jungen gibt sie den Tipp, er solle jeden Tag für zehn Jahre seines Lebens halten.
So erlebt Oscar in den elf Tagen seine Pubertät, die Heirat mit Peggy Blue (mit fantastischer Höhe und kristallinem Sopran: Carina Schmieger), seine Midlife Crisis mit einer kleinen Affäre (Lucia Schreiber als Sandrine), eine rasante Autofahrt zu Weihnachten mit Oma Rosa und auch Einsamkeit im Krankenbett.
Bei den Gesangslinien achtet Bollon auf hohe Textverständlichkeit. Nie werden die Sänger vom Orchester erdrückt. Im Gegenteil – es sind oftmals die leisen, nur dezent begleiteten Passagen, die größte dramatische Wirkung entfalten. Die Orchesterbegleitung ist mit ihren Liegetönen und den schnellen, fließenden Pizzicati wie ein Band, das niemals reißt. Und die Oper, ohne ihr Gewalt anzutun, zusammenhält. Auch Humor hat diese Musik, wenn sie bei Popcorns (Christoph Waltle) Sehnsucht nach Salami einen Belcanto-Ton anschlägt, Xavier Sabata für einige Kraftausdrücke in die Bruststimme fallen lässt, in der Liebesszene von Oscar und Peggy Blue Tschaikowskys Schneeflockenwalzer aus dem „Nussknacker“ leicht verfremdend zitiert oder Oma Rosas witzig bebilderte Autofahrt (Video: Thilo Nass) mit einer spektakulären Koloraturarie in Szene setzt. Nur ein paar Mal entfesselt Fabrice Bollon das Orchester wie bei der Traumsequenz am vierten Tag, als zu virtuosen Streichern und treibenden Beats Peggys Operation und Hochzeit miteinander verschränkt werden. Am Ende löst sich diese Musik auf, wie auch die Briefe immer kürzer werden. Oscar liegt auf dem Sterbebett – und Bollon zaubert dazu einen schwebenden Klang, der bereits die Ewigkeit andeutet. Die mit stehenden Ovationen gefeierte Oper endet in der gleichen hellen Einstimmigkeit, wie sie begonnen hat.
Weitere Vorstellungen: 7.3., 19.30 Uhr, 9.3., 15 Uhr, 14./ 21.3., jew. 19.30 Uhr.
Georg Rudiger