Literatur

„Vom Verschwinden der Rituale – Eine Topologie der Gegenwart“

Mit dem Rückzug ins Private während der Krise erhalten Rituale neuen Wert. Eine Wiederentdeckung? Nach der Diagnose des Philosophen Byung-Chul Han stehen Rituale kurz vor dem Verschwinden. Der Grund: Unsere Wachstumsgesellschaft.

Ritualisierte Formen wirken oft fremd, wenn nicht sogar bedenklich. Man assoziiert einen blinden Glauben, hierarchische Herrschaftsformen, Okkultes, vielleicht auch schlicht dumme Esoterik. Aber macht es Sinn, das Ritual einfach so abzustempeln oder lohnt es sich, gerade in überfordernden Krisenzeiten, nicht, darüber nachzudenken, welche Bedeutung ein ritualisiertes Leben für den Menschen hat und was ihm fehlt, wenn er es verliert? Byung-Chul Han, Philosoph und Gesellschaftskritiker, gibt mit seinem Buch „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart“ genügend Raum, dieser Frage nachzugehen.
Vorsicht zunächst aber, das Buch stellt keinesfalls einen historischen Abriss dar. Vielmehr setzt es genau hier, in dieser Gesellschaft an und kritisiert von der Mitte aus. Dabei sieht Han die Rituale dort längst nicht mehr verortet, sieht in ihnen eher eine „Kontrastfolie, vor der sich unsere Gegenwart schärfer konturiert“. Also der bewährte Ansatz, ein Phänomen über die Betrachtung seiner Grenzen genauer zu konturieren. Und bei der Begegnung mit dem Ritual, das macht das Buch schnell klar, kommt unsere Wachstumsgesellschaft an ihre Grenzen. Byung-Chul Han kann das nur begrüßen.

Konsequente Frontstellung

Dass Byung-Chul Han in der aktuellen Entwicklung unserer Gesellschaft nichts Gutes erkennt, macht schon seine Begriffsverwendung in der bündigen Vorbemerkung klar: „Pathologien der Gegenwart“, „Erosion der Gemeinschaft“, „kollektiver Narzissmus“ differenzieren die allgemeine Negativdiagnose, die sich im Verlauf des Buchs rasch kristallisiert: Die kapitalistische Wachstumsgesellschaft ist eine Gesellschaft der Entfremdung, uns selbst und anderen gegenüber. Ein Urteil, das zunächst abschreckend wirkt. Nicht, weil die Diagnose so negativ ist, sondern weil sie in ihrer ewigen Wiederholung von Marx über Orwell bis zur heutigen Degrowth-Bewegung längst zum Klischee erstarrt ist, so sehr man ihr auch glauben mag. Byung-Chul Han tut also gut daran, nicht bloß Diagnosen zu stellen, sondern auch am Positiven erkennbar zu machen, von was wir uns denn entfremdet haben.
Am Anfang steht also eine Definition: „Rituale sind symbolische Handlungen. Sie tradieren und repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen. Sie bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor, während heute eine Kommunikation ohne Gemeinschaft vorherrscht.“ Mit Gegenüberstellungen in schlichten Sätzen baut Han eine Spannung zwischen ritualisierter und ritualloser Gesellschaft auf, die das ganze Buch trägt. Eine geschlossen utopische Gegenwelt gönnt Han seinen LeserInnen an keiner Stelle. Konzepte und griffige Bilder hält er viele bereit. Sein Buch behandelt Phänomene wie kapitalistische (Selbst-)Produktion, Authentizität, Feste, Spiele, Krieg und zuletzt auch die Pornografie, stellt recht lose positive Konzepte negativen gegenüber. Dabei geht es nicht immer unmittelbar um Rituale, sondern auch um rituelle Formen und den Werten, die dahinterstehen. Seine Eingängigkeit erhält das Buch über die Wiederholung vieler Thesen. Dabei ist gerade Wiederholung etwas, das Rituale kennzeichnet. Byung-Chul Han bleibt also konsequent.

…und ein wenig Rückzug

Die mittlerweile längst übersteuerte Heimatdebatte, die der Bundesrepublik Deutschland sogar ein fragwürdiges Heimatministerium beschert hat, zeigt, wie sehr heute um stabile Formen in einer ganz und gar instabilen Welt gerungen wird. Rituale könnten hier viele Klagen ersparen, zumindest wenn es nach Han geht, denn sie besitzenüber ihre Symbolkraft Wiedererkennungswert und stellen sich damit der Flüchtigkeit und Zufälligkeit unserer modernen Wirklichkeit entgegen. Mehr noch, sie schaffen ein Gefühl des „Zu-Hause-Seins“ und damit Haltbarkeit und Zuverlässigkeit. Bedeutet nach den Lehren Buddhas das Erleben von Nichtdauer Leiden, so schaffen Rituale Dauerndes.
Nicht-dauernd ist für Han der Konsum. Schon etymologisch wird klar, dass es sich bei ihm um einen aufbrauchenden Prozess handelt. Dinge verlieren ihren Halt, gehen verloren. „Rituelle Praktiken sorgen dafür, dass wir nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit den Dingen schön umgehen und resonieren.“ Dinge sind dabei nicht nur Gebrauchsgegenstände wie Stuhl und Tisch, sondern auch Werte wie Menschlichkeit oder Nachhaltigkeit, die nach Han längst auch ökonomisch ausgeschlachtet werden. Um das zu erkennen, braucht es nicht viel Fantasie. Man denke nur an Klimaschutz oder Fairer Handel, beides Werte, die von der Wirtschaft längst als geschäftsfördernde Faktoren erkannt und vermarktet wurden.Für den Gesellschaftskritiker Han ist das bloßer Hohn und so wird auch seine aufgeräumte Sprache um einige ironische Spitzen reicher: „Weltveränderung durch Konsum, das wäre das Ende der Revolution. Vegan sollten auch Schuhe oder Kleider sein. Bald wird es wohl vergane Smartphones geben.“ Han geht es vor allem um unsere Stellung zu den Dingen. Und eins wird beim Lesen schnell klar: Rituale könnten uns helfen, sich dieser Stellung bewusst zu werden.

Form gegen Narzissmus

Byung-Chul Hans Äußerungen zur Sinn- und Wertentleerung des Neoliberalismus sind griffig und brauchen keinen weiteren Kommentar. Dennoch werden manche LeserInnen, die seine Perspektive hier teilen, deutlich skeptischer sein, was Hans Huldigung des Formellen betrifft. Sind Äußerlichkeiten nicht genau das, was unsere Scheinkultur ausmacht? Grelle Oberflächen und spiegelnde Displays? Ist das nicht der Narzissmus, den Han hier doch eigentlich kritisieren will? Für Han geht der Prozess in die entgegengesetzte Richtung: „Der narzisstische Verinnerlichungsprozess entwickelt eine Formfeindlichkeit. Objektive Formen werden verworfen zugunsten subjektiver Zustände. Rituale entziehen sich der narzisstischen Innerlichkeit. Die Ich-Libido kann an sie nicht andocken. Wer sich ihnen hingibt, muss von sich selbst absehen.“ Individualisierung und Authentizitätsstreben sind für Han gerade keine positiven Bestrebungen, sondern Ausdruck einer krankhaften Suche nach Innerlichkeit. Wer ständig an sich selbst arbeitet, schließt sich von der Gesellschaft zugunsten eines Ich-Kultes ab. Im Mittelpunkt steht die „Selbst-Produktion“, die Gesellschaft zerfällt in einzelne Parzellen.
Auch hier fällt nach kurzem Nachdenken so manches Beispiel ab. Die ständige Selbstoptimierung über Influencer, die vom YouTube-Kanal aus in die eigene Wohnung strahlen und dazu anhalten, sich erst einmal um die eigene Erscheinung zu kümmern, sind weniger kommunikativ als isolierend. Auch die sogenannten „Filter Bubbles“, soziale Räume, in denen man nur Gleichgesinnte trifft, schmeicheln dem eigenen Ego mehr als dass sie eine real existierende Gesellschaft abbilden. Die Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Parteien, die oft nicht mehr fähig sind, einen geordneten demokratischen Disput zu führen, ist sicher eine Folge selbstgeleiteten Authentizitätskults, der Ausdruck „Das werde ich wohl noch sagen dürfen“ selbstschmeichlerische Pose, die weniger dem „Volk“ als dem eigenen Ego dient.
Aber ist das formstrenge Ritual die geeignete Gegenfolie? Han wählt dafür Begriffe, die weit weniger leicht zu verdauen sind als seine bündige Kapitalismuskritik. „Der schöne Schein bringt eine schöne Seele hervor und nicht umgekehrt.“ Han moniert die stete Suche nach plötzlichen Gefühlsausdrücken und Subjektivität bei gleichzeitiger Abwehr von geformtem Verhalten, welches oft als „inauthentisch oder äußerlich“ abgetan wird. Dabei bedeutet die Abkehr von den Formen für Han eine absolute Einkehr und damit Isolation des narzisstischen Individuums, dem nur die Depression bleibt.

Ritual oder Selbstoptimierug? Meditation in heutigen Zeiten

Mehr Spiel und Theater

„Wo der Narzissmus wütet, verschwindet das Spielerische aus der Kultur. Das Leben verliert immer mehr an Heiterkeit und Ausgelassenheit. Die Kultur entfernt sich von jener heiligen Sphäre des Spiels.“ Statt rauschhaften Festen voll übersteigender Ekstase bleibt für Byung-Chul Han heute vor allem „profaner Ernst der Arbeit“. Hier wird sein Befürworten des Formhaften schließlich schon eingängiger, vielleicht weil es gerade jenes positiv-utopische Element erhält, das Han bei seiner Auseinandersetzung sonst lieber meidet. Wer verkleidet sich schließlich nicht gerne, mimt fremde Rollen oder schafft vielleicht auch künstliche Welten? Oft berühren diese in ihrer fantastischen Möglichkeitsform gerade Teile der Realität, die wir über eine rein realitätsbasierte Selbsterfahrung nicht erreichen würden.
Einen griffigen Zugang zu diesem Phänomen schafft Han auch durch einen historischen Rückblick. Durch die zunehmende Bedeutung der Arbeit seit dem 19. Jahrhundert wird viel vom theatralen Pomp der vorherigen Jahrhunderte gegen Praktisches ausgetauscht. Das Leben wird weniger Bühne als Fabrik, die Perücken und ausgewählten Stoffe verschwinden und machen Schlichtheit Platz. Han schätzt die spielerische Auseinandersetzung mit Gefühlen über die Mode vergangener Jahrhunderte und kritisiert die offenbarende, für ihn pornografische Darstellung des Ich durch die schlichte, hautbetonende Mode der heutigen Zeit. Zu verstecken gibt es dann nichts mehr, wodurch Intimität verloren geht. „Der Authentizitätskult lässt den öffentlichen Raum erodieren. Er zerfällt zu Privaträumen. Jeder trägt seinen Privatraum überall mit sich herum.“ So einleuchtend Hans Appell für mehr Schutz des Privaten und eine behutsamere Auseinandersetzung mit dem Emotionalen zunächst wirkt, so einseitig bleibt er aber doch an anderer Stelle, wenn für ihn die bloße Emotionsäußerung in den Kontext einer Verrohung der Gesellschaft gesetzt wird. Kann man sich über den rohen, formlosen Umgangston in öffentlichen Debatten zurecht empören, ist die Fähigkeit zur Selbstentblößung in vielen Fällen, etwa in der #MeToo-Debatte, durchaus zu einer wichtigen, weil eindringlichen Kommunikationsform geworden. Sie zeigt die Verletzlichkeit des Menschen und die Notwendigkeit, Formen zu schaffen, die schützend wirken. Insofern ignoriert Byung-Chul Hans Entwurf einer Gesellschaft des schönen Scheins die wichtigen Brüche und Übergangsphasen, die dem vorangehen müssen und die dem auch innewohnen müssen, als Möglichkeit und Bewegungsspielraum.

Stille und Fest

„Wir können nicht schweigen, weil wir dem Zwang der Kommunikation, dem Zwang der Produktion unterworfen sind.“ Für Han sind Stille, Kontemplation und Empfänglichkeit, wie sie nicht durch Arbeit und Produktivität durchdrungen werden sollen, schlicht ein heiliges Gut. Wer diese im Wechsel sieht, kann, folgt er Han, auch den Wert des Festes entdecken. „Der Festzyklus entspricht dem beständigen Wechsel von Arbeit und Ruhe, von Zerstreuung und Versammlung.“ Das Fest kann der Zwecklogik der Marktgesellschaft entkommen und eine Steigerung des Lebens ermöglichen, das sich dann nur mehr auf sich selbst bezieht. Den heutigen, sicherlich nicht seltenen Festivals sieht sich Han deshalb aber lange nicht nahe. Für ihn sind sie mehr Eventmanagement, das unverbindliche, willkürliche Unterhaltung bietet. Als Massenveranstaltungen bilden diese Festivals keine Gemeinschaft. Da wundert auch nicht, dass Han noch weiter geht und den heutigen Freizeitbegriff überhaupt in Frage stellt. Das „neoliberale Regime“ hat für ihn totalitären Charakter. Ist die Freizeit von der Arbeit nicht wirklich unabhängig, ist sie lediglich eine Arbeitspause, eine Leerstelle im Arbeitstrott, die mancher in seinem Streben zur ständigen Produktivität gar nicht zu füllen vermag. Das Resultat ist ein erschöpftes Leben.

Kein Wohin mehr

Am Ende der Lektüre sollte, folgt man den Ausführungen Byung-Chul Hans konsequent, also kein „Quo vadis?“ stehen. Wir sollten dann keinem weiteren Zweck nachlaufen, sondern eine rituelle Vertiefung des Lebens im Hier und Jetzt suchen. Hans Buch ist in seiner Gegenbewegung ein notwendiges Buch, das rituellen Gesten nicht als weiteres Steigerungsprodukt verkaufen will, sondern kritisch auf das Gegebene Bezug nimmt. Aus ihm heraus muss der Wandel gestaltet werden, eben beim Menschen selbst. Umso irritierender letztlich, dass sich Hans nüchtern verfasste Schrift wenig mit dem lauten Leiden des Menschen auseinandersetzt. Emotionalisierung scheint grundfalsch in einem System des schönen Scheins. Byung-Chul Hans Frontstellung zum „neoliberalen Regime“ lässt leider wenige Zwischenräume. Dennoch braucht es radikale Denker wie ihn – für neue Perspektiven und für den kritischen Geist, der bei den Denkbewegungen selbst anfängt und nicht erst bei seinen Produkten. Wir brauchen mehr Philosophie, vertiefendes Denken.

Byung-Chul Han, „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart“, Ullstein Verlag 2019.

 

Bildquellen

  • 05 CrisCosmo_TobiNessel_byRené_van_der_Voorden_yellow: Cris Cosmo und Tobi Nessel, Foto:René van der Voorden