Vom Mehrwert des Zusammenschließens: „Das Gewicht der Ameisen“ des kanadischen Autors David Paquet im Theater im Marienbad
Das ist doch mal eine Ansage: „Ihr könnt aufhören, mich auszubuhen, ich mag euch auch nicht“. Falls der Direktor in David Paquets Jugendstück „Das Gewicht der Ameisen“ irgendwann einmal so etwas wie Leidenschaft für seinen Beruf empfunden hat, wurde diese ihm gründlich ausgetrieben. Zuviel Verwaltung, zu viel Renitenz, zu viel Gleichgültigkeit von Seiten der Schülerinnen und Schüler? Oder hat er einfach seinen Beruf verfehlt und war nie dazu geeignet, junge Menschen auf die Zukunft vorzubereiten? Die Schülerschaft jedenfalls reagiert mit Auflehnung oder Gleichgültigkeit. Alles eine Frage des Temperaments. Würde am Ende dieser Woche der Zukunft (als ließe sich diese nur in homöopathischen Dosen ertragen) nicht die Wahl zur Schulsprecherin, zum Schulsprecher anstehen, alles könnte in gepflegter Routine weitergehen. Doch nein, es ist Wahl, „damit ihr denkt, dass ihr Macht habt“. Im Theater im Marienbad geht gut eine Woche vor der Bundestagswahl bei diesen Worten ein wissendes Auflachen durch das Premierenpublikum.
Noch im Jahr seiner Uraufführung 2022 wurde „Das Gewicht der Ameisen“ auf deutschen Bühnen gespielt. Das Setting, das der kanadische Autor für sein Stück bestimmt hat, kennt jeder. Sei es, weil man zur Schule geht, ein Kind hat oder auf die eigene Schulzeit zurückschaut. In Matthias Kaschigs Inszenierung ist die Schule so etwas wie ein Mikrokosmos, der auf die Gesellschaft verweist. Da kann es klug sein, das Heft in die Hand zu nehmen und für das Schulsprecheramt zu kandidieren. Mit Jeanne (Julia-Sofia Schulze) und Olivier (Alduin Gazquez) stehen sehr ungleiche Konkurrenten zur Wahl, die auf dem weißen Podium, das sich aus vier Sockelwandelementen zusammensetzt, breitbeinig sich behaupten oder sich klein machen. Beiden misslingt ihre Wahlrede und es zeichnet sich ab, dass Mike (Lisa Bräuniger) mit dem Slogan „Pizza für alle“ das Rennen machen wird, zumal gleich der Geruch von Pizza über den Sitzreihen hängt. Man ersetze nur mal Pizza durch stabile Renten, Wirtschaftswende oder mehr Ausweisungen und man versteht sofort, so geht Wahlkampf nicht nur an Schulen.
„Das Gewicht der Ameisen“ greift den Populismus auf, der seit einigen Jahren die Politik bestimmt, aber auch die Zukunftsnöte der Jugendlichen – einmal ist Greta Thunbergs Stimme zu hören. Der Titel thematisiert den Mehrwert derer, die sich zusammenschließen, stößt den Menschen aber auch vom Thron. Im Theater im Marienbad setzt man das Ensemblestück mit viel Witz um. Jeannes Wut drückt sich etwa durch den Einsatz von Schlagzeugstöcken in der Luft aus, denen Clemens K. Thomas musikalischen Nachdruck verleiht. Christoph Müller spielt nicht nur den ernüchterten Direktor, sondern auch eine dauerbetrunkene Buchhändlerin, während Daniela Mohr glaubhaft die besorgte Mutter von Olivier und eine resolute Hausmeisterin verkörpert. Kaschigs Inszenierung trägt die visuelle Handschrift von Kevin Grabers Videoprojektionen, die den Raum spektakulär in bewegte Schrift und vervielfältigte Bilder verwandeln. Mit gut 90 Minuten fällt der Abend jedoch deutlich zu lang aus, Kürzungen hätten hier gutgetan, zumal vieles an Paquets Stück wohlfeil wirkt wie etwa die menschliche Seite des Rektors, der sich um seine sterbende Mutter kümmert. Nur: es ist nicht an den Jugendlichen, die eine ziemlich kaputte Welt erben, schwierige Lebensphasen von Erwachsenen zu würdigen. Über weite Strecken der Inszenierung wirkt dies wie eine Verdrehung der Tatsachen. Da kann man durchaus mit Greta Thunberg fragen: how dare you?
Weitere Infos: www.marienbad.org
Bildquellen
- „Das Gewicht der Ameisen“ des kanadischen Autors David Paquet im Theater im Marienbad: © Marc Doradzillo