Verwunschene Zonen inmitten des Gewöhnlichen
Peter Huchel-Preis an Nora Bossong
Manche Aufstiege sind traumhaft. Mit zwei Romanen und einem ersten Gedichtband hatte die 1982 in Bremen geborene Nora Bossong sich schon zuvor einen festen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur erschrieben. Nun erhält die Autorin bereits für ihren zweiten Gedichtband, der im letzten Jahr unter dem Titel „Sommer vor den Mauern“ erschien, den angesehenen Peter-Huchel-Preis, die höchste Auszeichnung für zeitgenössische deutschsprachige Lyrik.
Nora Bossong beweist, dass man heute noch lesbare und verständliche Gedichte auf höchsten Niveau schreiben kann, ohne die poetische Sprache durch zuviel Mitteilsamkeit zu verraten. Wie in ihren Romanen rückt Nora Bossong auch in ihren Gedichten einerseits die Geschichte, andererseits gegenwärtige Erfahrungen und biographische Erinnerungen ins Blickfeld ihrer sprachlichen Erkundungen.
Es ist ein schmaler Grad zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der zu verwunschenen Zonen führt. Oder in ein „Revolutionäres Idyll“, wie ein kleines Gedicht heißt: „Ich sah sie: Fünf Schafe, kein Schäfer, / die Freiheit kroch ihnen unters Fell. /Ein Zittern ging durch ihre Glieder, / ihr Wölkchenhaar, durch ihren Blick: / Da war das Watt. Und soviel Watt. / Ein endlos aus Watt gemachtes Watt. / Sie senkten die Köpfe und rissen / Gras.“ Viel gewinnt Nora Bossong ihrer Heimat, der norddeutschen Provinz ab, „dieser flachen Gegend – und alles protestantisch“. Immer die Enge, die Verkrustungen aufbrechend, Überraschendes zutage fördernd, Entdeckungen machend inmitten des Gewöhnlichen. Manchmal genügt ein Vers, um die Brüchigkeit und Gefährdung einer Idylle nachhaltig zu veranschaulichen: „In den Garten kroch ein Industriegebiet“. Das wird auf einen Schlag spürbar. Wie „diese Sucht nach Geräuschen, Türenschlagen / das Schreien einer Katze, des Rostes“. So in dem Gedicht „Klosterjahr“, entstanden während einer ihren vielen, mehr oder minder ertragreichen Stipendienaufenthalte, die in ihrem preisgekrönten Gedichtband Niederschlag fanden.
Die besten Gedichte von Nora Bossong bilden nicht ab, sondern brechen Wirklichkeit auf, zeigen Versprengtes. Sie können wie hingeworfene Brocken der Wahrnehmung erscheinen oder auch phantasmagorisch-unheimliche Züge annehmen. Wie in dem Gedicht „Sprengstück“: „Dann, eines Nachts, jemand flüsterte, / jemand flüsterte mir ein Schlaflied, / sah ich sie, sah ich / ein Gesicht. Hilflos, fast harmlos / kroch es aus dem Schatten des Flurs / ohne Pudergeruch, ohne Parfüm, / eine verwitterte Miene.“ „Seitab“ lautet ein weiterer programmatischer Titel, umstandslos erzählerisch, wie es häufiger vorkommt, setzt das Gedicht ein: „Zwei Männer im März schleppen Latten / zum Festzelt am Rand des verfallenen Guts. / Es sind Hunde hier, überall Hundegebell / und ein Spielfeld, Himmel und Hölle, / doch nur ein Kind mit Bronzebrüsten, / nur eine Statue dreht sich seitab. / Das Altlaub in den Bäumen vergessen, / eine weiße Tüte weht an einem Ast, / jemand, der fort ist, kapitulierte / vor jemandem, den es hier nie gab. / Lange wird man auf April warten / und auf einen dritten Mann. Der erste zieht / seine Mütze vom Kopf, dann ein Lachen / über soviel Provinz.“
Bossongs Gedichte beinhalten oft skizzierte Geschichten und Alltagsszenen, Portraits von Menschen und Konzentrate der Erinnerung, in denen ganze Romane sich andeuten können, jedoch nichts auserzählt wird, alles schön in der Schwebe bleibt. Die überwiegende formale Anspruchslosigkeit und Leichthändigkeit der zumeist kurzen Gedichte täuscht, denn es sind bei näherer Betrachtung allesamt streng und genauestens durchkomponierte poetische Textgefüge, die dann am besten sind, wenn man vom Bemühen ums Wort nichts mehr bemerkt. Manchmal schlüpft zuviel in die kleinen Gedichteinheiten hinein, Bildungsballast, lose Bewusstseins- und Gedächtnissplitter, ein Zuviel an Eindrücken und Reflexionen. Einprägsamer und nachhaltiger in der Wirkung sind ihre nicht zu offensichtlich auf Komplexität angelegten Gedichte. „Frischlinge“ heißt eines davon: „Es seien Frischlinge verschwunden, / man habe nahe einer Feuerstelle / ihre zernagten Reste gefunden, / erzählte mein Großvater mir, / ehe sein Hirn ihm die Sprache / wegschlug. Er lief ihr nach.“ Der Sprache nachlaufen müssen: lapidarer lassen sich das Grauen und der Schmerz des Sprach- und Gedächtnisverlusts kaum ausdrücken.
Dürfen Gedichte noch berühren? Sie dürfen es, wenn sie so einfach und gut, so unsentimental und prägnant sind wie das oben zitierte. Nora Bossong hat das Glück, der Sprache nicht nachlaufen zu müssen, sie scheint ihr oft zuzufliegen. Eine versteckte Antwort auf die Frage nach dem „lyrischen Ich“, eine Antwort, die schöner nicht sein könnte, findet sich in dem Gedicht „Natur“: „Ich wünsche mir eine Windmaschine / um einmal nicht mehr ich selbst zu sein…“
Verleihung des Peter-Huchel-Preises: 3.April, Staufen.
Nora Bossong: Sommer vor den Mauern, Gedicht. Carl Hanser Verlag, München 2011. 96 Seiten, 14,90 Euro.
Peter Frömmig