Utopien des Postkolonialismus: Adom Getachew erinnert in ihrem anspruchsvollen Sachbuch an eine „Welt nach den Imperien“
Schwarze Jakobiner, Kwame Nkrumah, die NWWO. Wem das alles nichts sagt, der könnte davon profitieren, Adom Getachew zu lesen. Die Politikwissenschaftlerin hat ein Buch über die postkoloniale Selbstbestimmung geschrieben – und blickt so auf eine hoffnungsvolle wie erschütternde Geschichte der Befreiung zurück.
Was folgt auf den Kolonialismus? Postkolonialismus? Leicht gesagt, aber was heißt das konkret? Wer waren die Akteur:innen, was wurde erreicht, was verfehlt? Und sollte man noch immer von einem Postkolonialismus sprechen? Schon vom Untertitel her macht Adom Getachews Buch „Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung“ klar, dass auf ein vergangenes Phänomen geblickt wird. Ein vergangenes Phänomen, das – so lässt sich aus der Lektüre lernen – nichts von seinem explosiven Gehalt verloren hat und das bis in die heutige Welt wirkt – mag sie noch so hoffnungslos erscheinen. Entsprechend lohnt das Projekt einer „Wiederausgrabung“ für die Autorin, gibt sie doch eine „neue Sicht auf die Dekolonisierung“ frei, die auch neue Perspektiven auf die Gegenwart ermöglicht. Wer neugierig wird, mag also beim Graben helfen. Vorab sei aber gewarnt: Die kundige Untersuchung der äthiopisch-amerikanischen Politikwissenschaftlerin geht tief. Ein Überblick bleibt zwingend kurz und fragmentarisch. Eine aufmerksame Lektüre lohnt in jedem Fall.
Wirbelsturm des Wandels
1960 ist ein sagenhaftes Jahr für alle postkolonialen Bewegungen. Ein Jahr, das später als „Afrikanisches Jahr“ bezeichnet werden wird. 1957 erlangt Ghana seine Unabhängigkeit, 1960 treten 17 afrikanische Staaten den Vereinten Nationen bei. Was zunächst nach einem freundlichen Zusammenschluss klingt, bedeutet tatsächlich eine kritische Aufarbeitung des kolonialen Erbes. Der afrikanische Block sorgt dafür, dass die Resolution 1514 Teil des UN-Bündnisses wird. Titel: „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“. Mit kolonialen Strukturen wird grundlegend aufgeräumt: Fremdherrschaft wird als Menschenrechtsverletzung deklariert, jede Art der kolonialen Herrschaft verboten und – für die Fragestellung des Buchs mitunter am Wichtigsten – das Recht auf Selbstbestimmung gefordert. „In der UN-Charta war sie zu einem zweitrangigen Prinzip degradiert worden, und auch die Verfasser:innen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte […] hatten es tunlichst vermieden, sie zu erwähnen.“
Das antikoloniale Konzept der Selbstbestimmung versteht Nationalismus so, dass er nicht nur auf den einzelnen, unabhängigen Nationalstaat verweist, sondern auch auf damit verbundene, internationale Institutionen. „Die Nationalist:innen vertraten die These, dass die Innenpolitik postkolonialer Staaten stets für externe Einflussnahmen und Interventionen anfällig bleibe, solange es keine rechtlichen, politischen und ökonomischen Institutionen gebe, die ein internationales Prinzip der Nichtbeherrschung in die Tat umsetzten.“ Internationalismus, ein Faktor, auf den Adom Getachews in ihrem Buch mehr als nur einmal verweist. Wer glaubt, der Nationalismus afrikanischer Staaten im Nachfeld des Kolonialismus sei bloß eine südliche Form westlicher Nationalstaaten, wird mit Getachews Gedanken mehr als nur ein Mal herausgefordert.
Herausgefordert werden auch die klassischen Modelle einer Transformation. Statt eines fließenden Übergangs vom Imperium zur souveränen Nation wollen die antikolonialen Nationalist:innen einen wuchtigen Umschlag, einen „Wirbelsturm des Wandels […], der die vielen Bastionen des Kolonialismus niederreißt.“ Mit diesen Worten spielt Kwame Nkrumah auf nichts anderes als eine Revolution an. Nkrumah war erster Präsident Ghanas und Stifter der Unabhängigkeit des Landes 1957. Er steht dem Panafrikanismus nahe, ein weiteres Konzept, das auf die Internationalität des afrikanischen Nationalstaatsgedankens verweist. In seiner Ansprache, in der er die Unabhängigkeit Ghanas proklamiert, mahnt er: „Unsere Unabhängigkeit ist ohne Bedeutung, wenn sie nicht mit der völligen Befreiung des afrikanischen Kontinents einhergeht.“
Inter-/Nationalismus
Der von Lenins Analyse der Verflechtung von Imperialismus und Kapitalismus beeinflusste Nkrumah und der Politiker und Theoretiker Eric Eustace Williams, der die karibischen Kolonien Trinidad und Tobago in die Unabhängigkeit führt, gelten für Adom Getachew als Föderalist:innen. Ihre Idee eines internationalen postkolonialen Systems steht großen Herausforderungen gegenüber. Die kleinen Volkswirtschaften der afrikanischen Staaten sind an die globalen Märkte gebunden und können keine autonome Ökonomie entwickeln. Eine Föderation verspricht ein regionales Wirtschaftssystem und darüber Unabhängigkeit vom globalen kapitalistischen System, auch auf politischer Ebene. Eric Williams, der als karibischer Historiker ebenfalls zur Verbindung von Kapitalismus und Kolonialismus forscht, weiß, dass die karibischen Inseln im Zuge des Kolonialhandels eng in den globalen Markt eingebettet sind. Nach Nkrumah ist der Neokolonialismus davon geprägt, dass „externe Akteure sich die wirtschaftliche Abhängigkeit zunutze machten, die die Fremdherrschaft überdauert hatte.“ Auf diese Weise können sich koloniale Akteure auch nach der Zeit der Imperien in demokratische Entscheidungsprozesse einmischen und ihren Interessen nach manipulieren. Eben eine neue Form kolonialer Herrschaft, die nur durch neue Zusammenschlüsse gebrochen werden kann.
Kwame Nkrumah und Eric Eustace Williams sind es schließlich auch, die an zwei kurzlebigen föderalen Projekten mitwirken: Die Union Afrikanischer Staaten und die Westindische Föderation. Ironischerweise ist letztere durch die Zusammenarbeit des britischen Kolonialamts und karibischer Nationalist:innen entstanden. Innerhalb der Westindischen Föderation (1958–1962) regiert ein Parlament zehn englischsprachige Karibikinseln. Nach dem Zusammenbruch gehen unter anderem Trinidad und Tobago als unabhängige Staaten aus dem Bund aus Kolonialzeiten hervor. Nkrumah steht unter anderen hinter der 1958 gegründeten Ghana-Guinea-Union, zu der 1961 auch Mali stößt. Aus ihr entwickelt sich schließlich eine „Miniaturausgabe der UNO“, die Union Afrikanischer Staaten, die jedoch schon 1963 aufgelöst wird.
Was ist passiert? Warum bedeutet der „Niedergang der kolonialen Selbstbestimmung“ das Ende beider vielversprechender föderaler Projekte?
Die schwarzen Jakobiner
Ehe das Ende der Geschichte geschrieben wird, sollte man ihre Grundlagen verstehen, die auch die Geschichte Schwarzer Intellektueller ist. Eric Eustace Williams, W.E.B. Du Bois und C.L.R. James veröffentlichen noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Texte, die eine „Neuschreibung der Geschichte […] im Dienste der bevorstehenden antikolonialen Revolution“ wagen. Adom Getachew nennt kanonische Titel wie „Black Reconstruction“ (1935), „Die schwarzen Jakobiner“ (1938) und „Capitalism and Sklavery“ (1944). Entwickelt wird nicht nur die Kritik an einem Kolonialismus, der Sklaverei und Kapitalismus verbindet. Auch werden schillernde, wirkmächtige Figuren Schwarzer Emanzipationsbewegungen zu Akteur:innen einer neuen Geschichtsschreibung. Darunter etwa der haitische General und Führer der Haitianischen Revolution Toussaint Louverture. Der von 1791 bis 1804 andauernde erfolgreiche Aufstand haitianischer Sklav:innen gegen das französische Kolonialsystem in Saint-Domingue gilt als beeindruckendes Zeugnis des Widerstands und der Souveränität autonomer postkolonialer Systeme.
Berühmte Formeln wie W.E.B. Du Bois‘ „color line“ konturieren die Kritik der intellektuellen Vordenker der Revolution. Du Bois, der 1900 an der ersten Pan-Afrikanischen Konferenz in London teilnimmt, fordert speziell die britische Regierung und damit das koloniale System auf, die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe zu beenden. Was heute als gängige Forderung antirassistischer Bewegungen, überhaupt einem Common Sense entspricht, ist damals durchaus revolutionär, nicht zuletzt innerhalb eines bestehenden kolonialen Systems.
Verzerrte Souveränität
Gilt die Verabschiedung der Resolution 1514 der Autorin als „Höhepunkt der antikolonialen Neuerfindung der Selbstbestimmung“, führt sie kurz darauf auch schon die erste Krise an. Kurz nach der Verabschiedung 1960 wird der gerade erst unabhängig gewordene Staat Kongo bereits intern herausgefordert. Die südliche Provinz Katanga will selbst unabhängig sein. Dazu kommt der Einmarsch von UN-Friedenstruppen. In den daraufhin einsetzenden, fünfjährigen „Kongo-Wirren“ zeigt sich das Problem postkolonialer Systeme, die koloniale Grenzziehungen beibehalten. Mit der Beibehaltung hoffen die antikolonialen Nationalist:innen weitere Fragmentierungen aufhalten zu können. Tatsächlich ignorieren diese Grenzziehungen die ethnische Vielfalt der betroffenen Regionen. Die Abspaltung von Katanga beweist die Problematik.
Ein weiterer Faktor, der gegen die postkoloniale Selbstbestimmung wirkt, ist die bereits erwähnte ökonomische Macht, die von den ehemaligen Kolonialsystemen weiterhin ausgeht. Indem die alten Imperien auf diesem Wege indirekt politischen Druck ausüben, lassen sie nur Raum für eine „verzerrte Form von postkolonialer Souveränität“. Die durch die Ölkrise 1973 noch verschärfte wirtschaftliche Abhängigkeit postkolonialer Staaten unterlaufen das Ideal ökonomischer Unabhängigkeit.
Die 1974 mit einer UN-Charta vorgestellte Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO), nach Getachew der „ehrgeizigste Plan für eine antikoloniale Weltgestaltung überhaupt“, soll die ungleichen Handelsbedingungen neu regulieren. Gleichzeitig tritt jedoch die neoliberale Ökonomie ihren bis heute ungebrochenen Siegeszug an. Die von ihr ausgehende „Gegenrevolution“ setzt den Akzent auf eine „bloß formelle Gleichheit als Basis der internationalen Ökonomie“: „Die ‚Idee einer einzigen Regel für alle in der Weltwirtschaft‘ verdrängte somit allmählich das Bestreben der NWWO, Rechte und Pflichten so umzuverteilen, dass mächtigere Staaten auch größere Lasten zu schultern hätten.“ Staatliche Souveränität ist nach der neoliberalen Wirtschaftsideologie dem freien Markt unterzuordnen.
Pessimistisch müssten die Ideengeber der antikolonialen Revolution, die Nachfolger der „Schwarzen Jakobiner“, also konstatieren, dass das neokoloniale Zusammenwirken von Imperialismus und Kapitalismus schließlich gewonnen hat. Das Buch Adom Getachew bliebe in einer solchen Welt trotz aller fundierten Analysen bloß eine inspirierende, rückwärtsgewandte Ideengeschichte für neugierige Historiker:innen. Die „Vision einer antiimperialen Welt“ ist für die Autorin jedoch mitnichten tot oder untot. Vielmehr kann sie einen Ort markieren, von dem aus neue Bewegungen und Ansätze gedacht werden können. Und tatsächlich spielen Getachew gegenwärtige Beispiele in die Hände: Black Lives Matter, die Forderungen nach Reparationen für Sklaverei und Genozid und die Aufrufe zur Dekolonisierung, die aus Südafrika schallen. Wer auch nur ein bisschen die Augen offen hält, weiß, dass die
postkoloniale Welt nicht stillsteht und auch nie stillstehen wird.
Adom Getachew, „Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung“. Aus dem Amerikanischen nach Frank Lachmann, Suhrkamp 2022.
Bildquellen
- Adom Getachew, „Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung“. Aus dem Amerikanischen nach Frank Lachmann,: Suhrkamp 2022.
- Der Kampf um eine lebenswerte Zukunft hält bis heute an – antirassistischer Protest in Südafrika: Foto: Pexels / Duané Viljoen