Trotz ukrainischer Proteste zeigt die Straßburger Oper Rimsky-Korsakows „Das Märchen vom Zaren Saltan“ in der klugen, poetischen Regie von Dmitri Tcherniakov
Bereits an der Bayerischen Staatsoper gab es im März dieses Jahres eine große Diskussion im Vorfeld, ob man derzeit eine russische Oper wie Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ an einer westlichen Bühne zeigen soll oder lieber nicht. Intendant Serge Dorn hielt gemeinsam mit seinem russischen Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski an den Plänen fest – und Regisseur Dmitri Tcherniakov, ebenfalls Russe, zeigte in seiner Inszenierung eindrucksvoll, wie aus den russischen Opfern Täter werden können. Auch vor der Premiere von Nikolai Rimski-Korsakows Oper „Das Märchen vom Zaren Saltan“ (1900) und dem damit verbundenen Festival „Arsmondo Slawia“ waren in Straßburg kritische Stimmen zu hören – besonders laut von der Organisation „PromoUkraïna“. Man verbreite russische Narrative in Zeiten des russischen Angriffskrieges, lautete der Vorwurf. Straßburgs Intendant Alain Perroux machte die Diskussion auf der Website der Opéra National du Rhin öffentlich, hielt aber an der Brüsseler Produktion von La Monnaie aus dem Jahr 2019 fest.
Auch hier ist Dmitri Tcherniakov der Regisseur und Bühnenbildner. Er reduziert das opulente Märchen aus der Zarenzeit auf ein zentrales Element. Eine Mutter erklärt ihrem autistischen Sohn, warum er in Kriegszeiten ohne Vater aufwachsen musste. Deshalb erzählt sie ihm das Märchen. Und so beginnt der Straßburger Abend in der ernüchternden Wirklichkeit dieser Rahmenhandlung. Erst mit der Musik betreten die Märchenfiguren über zwei Stege aus dem Zuschauerraum die Bühne. Ein uniformierter, wohl genährter Hofstaat mit Pluderhosen, roten Bäckchen, weißen Bärten und schraffierten Kleidern (Kostüme: Elena Zaytseva). Diese Bojaren sind ihre eigene Karikatur – vor allem die böse Muhme Barbaricha (mit erdigem Mezzo: Carole Wilson) und die zwei ältesten Zarentöcher Powaricha (Bernada Bobro) und Tkatschicha (Stine Maria Fischer). Dass sich der Zar ausgerechnet für die jüngste Tochter Militrissa entscheidet, bevor er in den Krieg zieht, können diese drei nicht ertragen. Und lassen dem Zaren ausrichten, dass die Zarin eine Missgeburt zur Welt gebracht habe. Der Herrscher verfügt aus der Ferne, dass seine frisch angetraute Gattin mit ihrem Sohn in einem Fass aufs Meer geschickt werden müsse. Das Volk beklagt zunächst die Nachricht und wechselt, schön überdreht choreographiert, zwischen Schockstarre und Hysterie, ehe es selbst Hand anlegt und die schreiende Militrissa mit ihrem Zarewitsch-Baby ins Fass steckt. So schnell wechselt das Volk die Seiten, wenn es opportun ist. Individualität gibt es nicht in diesem Zarenreich.
Unter seinem jungen Chefdirigenten Aziz Shokhakimov entführt das Orchestra philharmonique de Strasbourg auch musikalisch in eine Märchenwelt. Die Trompeten strahlen, die Holzbläser flechten Girlanden. Auch die mechanische Motorik in den turbulenten Massenszenen entwickelt Shokhakimov gekonnt. Die Orchesterzwischenspiele gelingen plastisch. Nur bei der Koordination mit dem Chor hapert es in der Genauigkeit. Waren bis zum ersten Akt Realität und Märchen noch getrennt, so verbindet Tcherniakov ab dem zweiten die beiden Welten. Kohlezeichnungen und kurze Zeichentrickfilme (Video und Licht: Gleb Filshtinsky) erzählen auf dem Gazevorhang von den Träumen des autistischen Jungen, der sein Gegenüber im Zarewitsch Gwidon findet. Aber er wird auch selbst Teil dieser Märchenwelt, wenn er unter den Vorhang kriecht und sich direkt in das teils modellierte, teils projizierte Bühnengeschehen begibt. Der ukrainisch-russische Tenor Bogdan Volkov spielt und singt eindringlich diese Rolle des autistischen jungen Mannes, dessen Fantasie die Wirklichkeit ersetzt. Tatiana Pavlovskaya ist diesem einsamen Zarensohn eine empathische Mutter. Ihr Rollenporträt von Militrissa hat Wärme, Tiefe und auch dunkle Schattierungen.
Mit leichter Hand wechselt Regisseur Tcherniakov zwischen Realität, Märchen und der Verbindung von beidem. Gwidon kehrt auch immer wieder vor den Vorhang zurück zu seinen Spielsachen und schaut von außen auf seine eigene Geschichte. Genial, wenn eine digital animierte Hummel beim bekannten, vom Orchester fein musizierten Hummelflug über das Bankett saust und die speisenden bösen Töchter aus Fleisch und Blut samt der Barbaricha sticht. Berührend, wenn in der bunten, projizierten Insellandschaft eine echte Schwanenprinzessin liegt und so bezaubernd singt wie Julia Muzychenko. Am Ende kehrt der Zar (mit dunklem, geschmeidigem Bass: Ante Jerkunica) mit seinen Freunden zurück als reumütiger Vater, der seinen Sohn zum ersten Mal sehen möchte. Die Märchenfigur wird zu dem bärtigen Vater mit den lieben Augen, den der Junge schon in den Kohlezeichnungen ersehnt hat. Aber Gwidon ist überfordert. Und trommelt zu den jubelnden Schlussklängen mit den Fäusten gegen die Wand. Kein Happy End in Straßburg in Tcherniakovs tiefgründiger Regie. Märchen bleibt Märchen.
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- Mit leichter Hand wechselt Regisseur Tcherniakov zwischen Realität, Märchen und deren Verbindung: © Klara Beck