Theater der Immoralisten lässt Stevensons „Jekyll & Hyde“ auf unser Selbstverständnis los
Der alltägliche Januskopf des Menschen
Robert Louis Stevenson schrieb 1886 seine vielfach adaptierte Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ als entlarvenden Angriff auf die im viktorianischen London herrschende verklemmte Doppelmoral und Selbsttäuschung der honorigen Gesellschaft. Manuel Kreitmeier, der zusammen mit Florian Wetter die Intendanz des ambitionierten „Theater der Immoralisten“ im Gewerbehof an der Freiburger Ferdinand-Weiß-Straße bildet, hat aus Elementen dieser klassischen Vorlage eine theatralische Studie über die dialektische Einheit von Gut und Böse im Menschen verfasst und inszeniert. Das Stück läuft dort En-suite bis zum 21. März 2020.
Als Setting dient eine durchschnittliche Kleinstadt, in der es neben der vermeintlich heilen (Klein-)-Bürgerwelt auch dunkle Viertel gibt, in denen Angst vor den Umtrieben eines Gewalttäters grassiert. Und der maskierte Unhold Mr. Hyde (Jochen Kruß) schlägt auch erbarmungslos zu: Ein schüchternes Mädchen (Christina Beer) wird von ihm auf dem Spielplatz brutal von der Schaukel gestoßen, nachdem er sich mit einem Luftballon eingeschmeichelt hatte. Für die Mutter (Chris Meiser), die ihr Kind auf dem Spielplatz allein gelassen hatte, ist bei der Vernehmung auf dem Polizeirevier durch Kommissar Lohmann (James Foggin) klar, dass der Täter der Ausländer war, der dem Mädchen in Wirklichkeit zu Hilfe gekommen war, obwohl sie die Tat gar nicht beobachtet hatte. Auch der liberale Anwalt Utterson (Max Färber), der den Ausländer Liwan (Yazmurad Hajiyev) aus den Klauen des Maskierten rettet, ist sich auf dem Revier sicher, dass nur ein Rechtsradikaler als Täter in Frage kommt. Der Überfall auf die blinde und stumme Putzfrau Ramirez (Verena Huber) im Labor des Rektors der Universitätsklinik Dr. Lanyon (Antonio Denscheilmann) kann für den dünkelhaften Arzt nur von einem Junkie verübt worden sein. Diese zusammengereimten Fantasieaussagen setzen sich noch in weiteren Episoden fort. Kommissar Lohmann erkennt schnell, dass die sauberen „Augenzeugen“ nur ihre subjektiven Fantasien und Vorurteile von sich geben und er der Wahrheit keinen Schritt näher kommt. Gleichzeitig drehen die Zeugen die Vernehmungssituation auf der Polizeistation um, indem sie den Kommissar massiv bedrängen und ihn anprangern, nicht gemäß ihrem je subjektiven Weltbild zu handeln. Der Zuschauer spürt zusehends, dass Gut und Böse in der Handlung nicht mehr signifikant unterscheidbar sind. Wer ist hier eigentlich der Schurke und wodurch? Dass die skurrilen Vernehmungen mitten im Publikum stattfinden, verstärkt den Drang hin zum individuellen Selbstbezug. Als immer mehr Indizien nahelegen, dass der mit Dr. Lanyon und Rechtsanwalt Utterson befreundete und angesehene Dr. Jekyll und Mr. Hyde identisch sein müssen, wird das Konkrete vollends zum Allgemeinen erhoben und die gleichzeitige Anwesenheit von konstruktiven und destruktiven Elementen in einem jeden Menschen manifest.
Die große Stärke der Inszenierung liegt an der Sparsamkeit der eingesetzten Mittel. Nichts Überflüssiges findet sich im Bühnenbild, Requisiten sind rar, potenziell spektakuläre Kampfszenen werden in Slow-Motion pantomimisch verfremdet und ihrer Sensation beraubt. So stört nichts den Weg der Denkanstöße zum Betrachtenden, ohne ihm fertige Antworten zu liefern. Das eindrucksvolle Schlusstableau, das alle im Stück Handelnden gleichmacht, unterstreicht, dass wir womöglich alle alles sein können, Jesus Christus oder Adolf Hitler, und dass wir uns alle mit diesem Dilemma auseinandersetzen müssen. So kann und soll gutes Theater sein.
Termine und Kartenreservierung unter www.immoralisten.de
Erich Krieger
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