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Stars, Sonnenschein und Mumien im Keller: Die 77. Ausgabe des Filmfestivals in Cannes bietet rauschhafte Filmerfahrungen und skurrile Begegnungen

Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes können vielleicht als das wichtigste, in jedem Fall als das glamouröseste Filmfestival der Welt bezeichnet werden. Wie sonst nur bei den Oscars scharen sich Stars aus aller Welt auf dem berühmten roten Teppich und geben der Presse viel Anlass, sich Gedanken über die Zukunft des Films oder die neuesten Top-Frisuren zu machen. Dieses Jahr war der Kultur Joker wieder mit dabei und gibt Einblick in die wunderbar paradoxe Welt von Cannes.

Überraschungen hat Cannes immer zu bieten. Dass Sean Baker am Ende die Goldene Palme für seinen Film „Anora“ in den Händen halten würde, war nicht unbedingt zu erwarten. Sowohl das feministische indische Drama „All We See As Light“ als auch der hochpolitische „The Seed of the Sacred Fig“ vom erst kürzlich im Iran verurteilten Regisseur Mohammad Rasoulof wurden als Anwärter gehandelt, schließlich aber mit anderen Preisen ausgezeichnet. Die Jury, der dieses Jahr unter anderem die erfolgreiche Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig („Barbie“) und die jüngst hochrenommierte Schauspielerin Lily Gladstone angehörten („Killers of the Flower Moon“), blieb – wie jedes Jahr – aber unberechenbar und machte die US-amerikanische Komödie über eine Sexworkerin zum großen Sieger der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes, die wie jedes Jahr für Glanz, Glamour und zugleich politisches Filmschaffen stehen.

Ort des Begehrens: Der rote Teppich Foto: Mathilde Petit-Boh/ Festival de Cannes

Glanz und Chaos

Wer mit Cannes die Côte d’Azur, Luxusyachten, Palmen und feine Manieren verbindet, liegt zunächst einmal nicht falsch. Verglichen mit der berüchtigten Tristesse der frühjährlichen Berlinale dominiert an der französischen Mittelmeerküste gehobene Urlaubsatmosphäre: Pittoreske Gässchen, das Rauschen der Wellen, Salz in der Luft, Möwen und zig Bademöglichkeiten – Nizza oder das idyllische Urlaubsörtchen Antibes liegen nur wenige Zugminuten entfernt. Wer die harten Kinositze nicht mehr leiden kann, macht also kurzerhand Strandurlaub und kommt erholt wieder ins Festivalgetümmel zurück. Auch auf dem Palais des Festivals in der Innenstadt geht es weitgehend heiter zu. Das Festival selbst wirbt mit einer angenehmen Atmosphäre und tatsächlich überwiegt die französische Höflichkeit. Selbst die muskulösen Security-Personen lächeln, manch einer singt sogar beim Check-In und überall wird man mit einem gelächelten „Bon jour!“ begrüßt. Wenn es mal Probleme gibt oder der Becher Cola nicht in den Kinosaal darf, wird das Ganze verbindlich-freundlich mit einem „Je suis désolé!“ abgewickelt.

Die Freundlichkeit und Professionalität des Personals sind gerade angesichts des stressigen Festivalalltags beeindruckend. Noch im Vorfeld protestierte das Bündnis Sous les écrans la dèche angesichts der sozial kaum abgesicherten Arbeit, die Mitarbeitende während des Festivals zu verrichten hätten. Trotz derartiger Verlautbarungen lief dieses jedoch ohne Unterbrechungen ab. 12 Tage lang strömen tausende Besucher:innen in die beschauliche Innenstadt des Küstenorts, die vom brutalistischen Palais des Festivals und den umliegenden Luxushotels mehrfach überragt wird. Die unterschiedlichen Kinosäle waren bis zum Rand gefüllt, die Restaurants und Cafés stets vollbesetzt, die Preise extragewürzt. Die Strandabschnitte waren größtenteils mit den Zelten der Restaurants oder angrenzenden Hotels verbaut. Für den weltberühmten roten Teppich wurde die Innenstadt polizeilich und militärisch abgeriegelt, die wenigen Busse blieben im Verkehr stecken und waren bis zur Erstickungsgefahr überfüllt. Warteschlangen entwickelten sich exponentiell und Tickets blieben allzeit rar.

Ein kennzeichnender Anblick waren Menschen in edler Abendgarderobe mit Pappschildern in der Hand. Sie hatten die Hoffnung, noch in letzter Minute Tickets für die besonders begehrten Galaveranstaltungen zu bekommen. Wer es in den großen Kinosaal des Grand Théâtre Lumière schafft, darf nicht nur wie die Stars über den roten Teppich schreiten, sondern schaut die Filme auch in Gegenwart illustrer Personen wie Greta Gerwig, Francis Ford Coppola oder Nicolas Cage. Wirklich nahe kommt man ihnen aber meist nur nach den Pressekonferenzen. Da bietet sich die Möglichkeit, dem grinsenden „Francis“ (er möchte gerne geduzt werden) die Hand zu schütteln oder das Schlafzimmerposter von Adam Driver (eher schlecht gelaunt) original signieren zu lassen. Das Geschrei muss man dann allerdings ertragen können.

Koffein und skurrile Begegnungen

Kaffee und Cola gehören zur Grundausstattung aller Cannes-Besuchenden. Die meisten von ihnen sind chronisch übermüdet vom tagtäglichen Aufstehen nach kurzer Nacht um 7 Uhr. Zu dieser Zeit werden jeden Tag im Windhundverfahren Tickets vergeben. Wer am schnellsten klickt, gewinnt. Um 07.01 Uhr ist auch das allerletzte, unattraktivste Ticket vergeben. Wer Pech hatte, weil das Internet langsam oder der Cursor nicht schnell genug war, dem bleiben nur der ständige Blick auf plötzlich freiwerdende Online-Kartenkontingente, das frühe Anstehen in der Last-Minute-Schlange oder das Pappschild. Wer sich im Anschluss an solche Abenteuer dann erschöpft an den Sandstrand legt, verschläft vermutlich das restliche Festival. Nach 12 Tagen Cannes-Programm sollte überhaupt Urlaub angemeldet werden. Besonders kluge Besuchende wissen das und hängen noch eine Woche Ferienhaus an das Filmvergnügen und sind danach wieder arbeitsfähig. Apropos Arbeit: Cannes ist Arbeit. Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch tatsächlich-offiziell. Geladen ist ausschließlich ein professionelles Publikum bestehend aus Menschen aus der Filmbranche oder der Presse. Graustufen sind natürlich vorhanden. Profis aus dem Bereichen TikTok oder halbprofessionellem Podcasting begegnen einem ebenso wie Studierende, die über ihr Unikino akkreditiert wurden und jetzt ihren Stars auf dem Teppich entgegenfiebern.

Das (verborgene) Herz von Cannes schlägt nicht aber nicht im Grand Théâtre Lumière, sondern im Marché du Film, einem der weltweit größten Filmmärkte im Untergeschoss des Palais des Festivals. Hier geht es weit weniger glamourös zu, als die (übrigens vielfach vorhandenen) roten Teppiche glauben machen. In steriler Messehallenatmosphäre versuchen Filmindustrien etwa aus Indien, Kanada oder Südkorea für ihre B-Movies Abnehmer:innen zu finden. CGI-Mumien, religiöse Propaganda, eine tanzende Robbe oder Rom-Coms überbieten sich gegenseitig in ihrer austauschbaren Aufmache. Wer interessiert ist (oder eine spezielle Marché-Akkreditierung besitzt), darf diese Filme im kleinen Kreis sichten und dann möglicherweise ins Geschäft kommen. Ebenfalls geschäftstüchtig geht es im Village International zu, hier vermitteln Produktionsländer ihre Filmschätze. Im geräumigen Deutschen Pavillon mit Strandzugang lacht einem etwa Matthias Schweighöfer auf einem Heftcover entgehen. Einen Wettbewerbsbeitrag hatte Deutschland dieses Jahr übrigens nicht vorzuweisen, dafür lief der nationale Kinobestseller „Chantal im Märchenland“ als „Chantal and the Magic Kingdom“ verstohlen im Marché-Programm.

Cannes ist definitiv ein höchst heterogenes Festival. Im Kinosaal sitzt die Journalistin der New York Times auch einmal neben Max Mustermann vom Heidelberger Filmpodcast. Man spricht Englisch, versteht sich und hofft insgeheim auf lukrative Verbindungen. Sehen und gesehen werden ist die Devise. Das weiß auch Cannes und hat deshalb Selfies auf dem roten Teppich aufs strengste verboten. Star Watching macht aber überhaupt am meisten Spaß, wenn man es nicht darauf anlegt. So hat der Autor dieser Zeilen Jesse Plemons (Preis Bester Hauptdarsteller für „Kinds Of Kindness“) beim gemütlichen Lesen im Innenstadtcafé gesehen. Die Ferienatmosphäre ergreift schließlich auch Hollywoodstars.

Es geht auch um Filme

Der Starauflauf in Cannes droht jedes Jahr den Blick auf die eigentliche Filmauswahl zu verdecken. Manchmal hilft er aber auch, einem weniger aufregenden oder gar enttäuschenden Programm etwas Glanz zu verleihen. Gerade das Wettbewerbsprogramm der 77. Internationalen Filmfestspiele blieb leider hinter den hohen Erwartungen zurück. Zwar waren einige etablierte Regisseure wie Giorgios Lanthimos („Poor Things“), David Cronenberg („Die Fliege“), Paolo Sorrentino („La Grande Bellezza“) mit Filmen vertreten, die enttäuschten jedoch mit überlangen, meist unfokussierten Plots und/oder großspurigem Gehabe. Francis Ford Coppolas millionenschweres, jahrzehntealtes Monsterprojekt „Megalopolis“ (mit Adam Driver in der Hauptrolle) brachte das Pressepublikum sogar zu Buh-Rufen. Selten sah so viel Produktionsgeld auf der Leinwand so billig aus.

Goldene Palme für Sean Bakers Komödie „Anora“ Foto: Neon/ap/Festival de Cannes

Vielleicht ist die Zeit der großen Männer und ihrer Überfilme ja auch einfach vorbei. Überzeugender waren gerade die kleineren, ungleich beeindruckenderen Filme in den Nebenreihen, so das ultralangsame, sinnliche Drama „Viet and Nam“ oder das neonglitzernde Pop-Musical „The Queens of Drama“, das Queerness weit aufregender inszeniert als der nur solide Mehrfachgewinner „Emilia Pérez“ (mit Selena Gomez). Beklemmend wie beeindruckend hingegen das Drama „Desert of Namibia“ der japanischen Regisseurin Yôko Yamanaka über eine im Leben steckengebliebene junge Frau und ihre Gänge durch Häuserschluchten und schwierige Beziehungen. Yamanaka, die mit 27 Jahren selbst zur jungen Generation Japans zählt, hat den Film gedreht, um sich und die Menschen um sie herum besser zu verstehen. Daraus ist ein teils düsteres, teils skurriles Portrait einer Frau geworden, die gegenüber dem Leben „keine Leidenschaft“ mehr empfinden kann – so Yamanaka im Interview. Stattdessen sieht sich ihre Protagonistin Aufnahmen der namibischen Wüste im Live-Stream an – ehe die Situation eskaliert.

Objekt des Begehrens: Die Goldene Palme Foto: Festival de Cannes

Die britische Regisseurin Andrea Arnold, die Programmkinofans unlängst mit Filmen wie „Fish Tank“ und „American Honey“ begeisterte und in Cannes den Sonderpreis „Carrosse d’Or“ gewann, lieferte mit „Bird“ eine überdreht fantastische und doch sensible Darstellung des Erwachsenwerdens im Arbeiter:innenmilieu Großbritanniens ab (Franz Rogowski spielt neben „Saltburn“-Star Barry Keoghan). India Donaldsons nachdenklich stimmender Indie-Film „Good One“ über einen skurrilen wie erschreckenden Campingausflug mit Vater und Tochter wünscht man ebenfalls einen deutschen Kinostart. Ob es den geben wird, bleibt jedoch fraglich, so verbleiben viele kleinere Perlen doch am Strand von Cannes oder dem nationalen Markt. Wem einer der Hauptpreise vorenthalten bleibt, dem bleibt oft auch der Durchbruch verwehrt. Anlauf nehmen lohnt sich trotzdem. Cannes bleibt weiterhin das wichtigste und sicher eines der faszinierenden Filmfestivals der Welt, gerade wegen seiner Eigenartigkeiten und Unvorhersehbarkeiten. Man muss sich nur vorzubereiten wissen.

Bildquellen

  • Ort des Begehrens: Der rote Teppich: Foto: Mathilde Petit-Boh/ Festival de Cannes
  • Goldene Palme für Sean Bakers Komödie „Anora“: Foto: Neon/ap/Festival de Cannes
  • Objekt des Begehrens: Die Goldene Palme: Foto: Festival de Cannes
  • Andrea Arnolds faszinierendes Drama „Bird“: Foto: Festival de Cannes