Interview

Heidegger in anderer Sicht

Im Interview: Prof. Dr. Silvio Vietta – Literaturwissenschaftler und Heidegger-Kenner

Silvio Vietta (*1941 in Berlin) ist Literaturwissenschaftler und Professor em. an der Universität Hildesheim. Seine Forschungen konzentrieren sich auf deutsche Literatur, Philosophie und Europäische Kulturgeschichte. Vietta publizierte u.a. zu Heidegger, den er noch persönlich kannte, was auch Anlass unseres Gesprächs ist. Jüngste Forschungen widmen sich der Rationalität als Motor der Kulturgeschichte Europas. Er sieht nicht die unterschiedlichen Religionen oder gar den Monotheismus als Motor von Gewalt, sondern dass der religiöse Fundamentalismus vielmehr umgekehrt nur die Antwort ist auf eine Asymmetrie in der Rationalitätsentwicklung. Im Frühjahr 2015 erschien dann Viettas „Abrechnung“ mit der aktuellen Heidegger-Debatte, in der er dem Vorwurf eines „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ Heideggers vehement widerspricht. Am 6. Oktober findet ein hochkarätig besetztes Podiumsgespräch zwischen Rüdiger Safranski, Peter Trawny und Silvio Vietta in Kirchzarten in der Rainhofscheune statt. Das Gespräch führte Jens Bodemer, der die Veranstaltung auch initiiert und konzeptioniert hat.

Jens Bodemer: Herr Prof. Vietta, was verbinden Sie mit der Stadt Freiburg außer Ihrer persönlichen Beziehung zu Martin Heidegger, zu der Sie uns dann auch gleich noch etwas sagen könnten?
Silvio Vietta: Mit Freiburg verbindet mich viel. Ich habe hier 1964 – 66 studiert, auch, um in dieser Zeit Martin Heidegger besuchen zu können. Meine früh verstorbenen Eltern hatten diese Beziehung zu ihm aufgebaut. So habe ich Heidegger alle zwei, drei Wochen im Semester gesehen. Meistens kam ich am Nachmittag nach 17 Uhr, wir gingen spazieren oder saßen in seinem Arbeitszimmer. Heidegger war damals auch interessiert von der Universität zu hören und der sich anbahnenden Studentenbewegung. Meistens rief dann Frau Heidegger zum Abendessen. Danach haben wir zuweilen noch auf seinem älteren Plattenspieler Musik gehört. Ich erinnere mich an seine Liebe zu Vivaldi.

Jens Bodemer: Hört sich an, als sei er fast so etwas wie ein Ersatzvater für Sie gewesen. Sie sind am 6. Oktober zu Gast in unserer Region und eine der zentralen Figuren eines Podiumsgesprächs über die letzte Heidegger-Debatte zu den im vergangenen Jahr erschienenen „Schwarzen Heften“ – das waren Tagebücher Martin Heideggers, die jetzt aus dem Nachlass bis zum Jahre 1948 erschienen sind. In Ihrem Besitz ist auch eines der letzten fehlenden Schwarzen Hefte im Original. Wie kamen Sie in diesen wertvollen Besitz?
Silvio Vietta: Mein Vater – Egon Vietta – hatte bereits ab 1931 Kontakt zu Heidegger und auch über ihn geschrieben, so einen Beitrag in der „Neuen Rundschau“ von 1931. Meine Mutter – Dorothea Vietta – hatte bereits seit Ende der Vierzigerjahre Heideggers Manuskripte abgeschrieben. Sie konnte neben dem Bruder Fritz Heidegger die Handschrift am besten lesen. Einige der Texte der Gesamtausgabe beruhen auch auf ihrer Abschrift. Aus der Arbeitsbeziehung ist eine Liebesbeziehung geworden, und Martin Heidegger hat ihr dann auch viele und wertvolle Handschriften – darunter das Schwarze Heft – geschenkt, einige dieser Geschenke auch mit persönlicher Widmung. Ich drucke in meinem neuen Buch über Heidegger neun Briefe Heideggers an die Schwester meiner Mutter nach deren Tod ab (<„Etwas rast um den Erdball…“ – Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik>, München 2015).

Jens Bodemer: In den Schwarzen Heften sind antisemitische Stellen aufgetaucht, die zu einer der heftigsten Debatten über den berühmten Schwarzwälder Philosophen von Weltrang führte. Wie bewerten Sie diese Stellen im Gesamtwerk des Philosophen, in dem ja bislang trotz seiner Verbindung zum Nationalsozialismus keine expliziten antisemitischen Stellen zu finden waren?
Silvio Vietta: Heidegger hat die moderne technisch-industrielle Zivilisation fundamental kritisiert als eine Form des Verbrauchs, der Vernutzung, sogar der Verwüstung der Erde, die er aus der abendländischen Kulturgeschichte ableitet. Die antiken Griechen haben einen rationalen Typus von Denken und Handeln erfunden, der sehr einseitig, aber eminent effizient war und ist. Dieser Denktypus hat über die europäische Kolonialgeschichte die Welt erobert und beherrscht sie heute in der Form einer technisch-industriellen Rechnergesellschaft. In diesem Zusammenhang hat Heidegger auch jene jüdischen Eliten kritisiert, die zur Avantgarde dieser Rechnergesellschaft gehörten und immer noch gehören – Kapitalisten, Banker beispielsweise. Heidegger hat dabei allerdings übersehen, dass Juden auch in diese Funktionen gedrängt wurden, weil ihnen bürgerliche Handwerksberufe oft nicht offen standen. Heideggers Judenkritik ist also eine Form der Zivilisationskritik, sie ist scharf zu unterscheiden von dem biopolitisch-rassistischen Vernichtungsprogramm der Nazis.

Jens Bodemer: Haben Sie durch die nun anhaltende Debatte gegenüber Ihrer früheren Veröffentlichung „Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik“ aus dem Jahre 1989, die ich immer als eine Antwort auf Victor Farías erschlagende historische Faktenlage zu Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus empfand und die sicher einige Studenten dieser Zeit vor einem auf den NS reduziertes Heidegger-Bild bewahrt hat, neue Erkenntnisse gewonnen?
Silvio Vietta: Ich habe ebenfalls in meinem neuen Heidegger-Buch diese Frage noch einmal aufgerollt und komme zu dem Schluss: „Heideggers Zielvorstellungen stimmen mit denen des Nationalsozialismus überhaupt nicht überein, die Differenzen sind viel größer als die Annäherung. Heidegger war in dem Sinne, wie wir ihn oben als eine militant-imperialistische und biopolitisch-rassistische Bewegung definierten, nie ein Nationalsozialist.“ (S. 134). Heidegger wollte schon damals eine Revision der europäischen Seinsgeschichte, und er wollte das mit Hilfe der konservativen Revolution in Deutschland erreichen. Bald musste er erkennen: Die Nazis wollten etwas ganz anderes: Weltmacht, Judenvernichtung. Heidegger schreibt in den Schwarzen Heften: Der „eigentliche Irrtum des ‚Rektorats 1933‘ war […], daß ich meinte, jetzt sei die Zeit, nicht mit Hitler, aber mit der Erweckung des Volkes in seinem abendländischen Geschick anfänglich – geschichtlich zu werden.“ (Gesamtausgabe 97, 98). So steht es ja auch in der Rektoratsrede und dafür hat ihm ein Mann wie Karl Jaspers damals sogar applaudiert und gedankt.

Jens Bodemer: In Ihrem 2015 erschienenen Buch „Etwas rast um den Erdball…“ relativieren Sie die Antisemitismus-Vorwürfe Peter Trawnys, des Herausgebers der Schwarzen Hefte, auf den Sie am 6. Oktober in der Rainhof-Scheune in Kirchzarten stoßen werden, indem Sie Heidegger in Schutz nehmen, er hätte nie einen biopolitischen Rassismus und Antisemitismus, wie ihn die Nazis vertreten hätten, vertreten. Inwiefern können Sie sich da so sicher sein?
Silvio Vietta: Herr Trawny hat sicher Verdienste um die Edition der Schwarzen Hefte, aber seine These, Heidegger sei Anhänger der sogenannten „Weisen von Zion“ gewesen – bekanntlich eine bösartige Fälschung um eine Art Weltverschwörung der Juden nachzuweisen – halte ich für abwegig. Heidegger hat viel zu tief in die kulturgeschichtlichen Wurzeln der abendländischen Seinsgeschichte geblickt, um die daraus entstandene globale Zivilisation ein paar Juden in die Schuhe schieben zu wollen. Das hat die jüngste Heidegger-Diskussion auf eine falsche Fährte gesetzt.

Jens Bodemer: In der aktuellen Debatte erkennen Sie eine unsachliche Abwertung des Philosophen. Es ist vielleicht „eine Kriminalgeschichte der Philosophie ohne philosophischen Belang“, wie es die ehemalige Vorsitzende der Heidegger-Gesellschaft Donatella di Cesare genannt hat. Aber wie sieht denn Ihr Ausweg aus den antisemitischen Aussagen Heideggers aus?
Silvio Vietta: Die aktuelle Debatte leidet ja zunächst einmal darunter, dass sie total verkürzt und einseitig ist. Im Grunde wurden von den rund 1800 Seiten der bisher publizierten vier Bände Schwarzer Hefte nur die wenigen Seiten über die Juden zitiert, das ist weniger als 0,5 % der Textmasse. Man müsste zunächst einmal überhaupt zur Kenntnis nehmen, was Heidegger sonst noch in den Heften zu sagen hat und in welchem Kontext seine Judenkritik steht. Heidegger hat da eine interessante Konvergenztheorie entwickelt derart, dass die politischen Systeme des Nationalsozialismus, Kommunismus, auch Kolonialismus unabhängig von deren jeweiligen Ideologien seinsgeschichtlich gar nicht so stark differieren. Sie alle sind auf Weltmacht, Ausbeutung, Vernutzung der Erde aus, „Machenschaft“ nennt das Heidegger. Auch der politische Systemwechsel zur Demokratie hat da gar nicht so viele Änderungen gebracht. Im Gegenteil: Die ökologische Ausbeutung der Erde kommt erst nach 1945 so recht in Fahrt. Heidegger schreibt 1950 „Der Angriff herrscht“. Und er schreibt auch, dass wir auf einen Weltzustand zusteuern, in dem die Differenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen.

Jens Bodemer: Wie bewerten Sie die Tatsache, dass selbst jüdische Schüler Heideggers wie Karl Löwith oder Hannah Arendt, um nur zwei zu nennen, sich nach dem Weltkriegsgeschehen mit Heidegger ausgesöhnt haben. Auf die Nähe von Heideggers Technikkritik zu Adornos Kritik der Kulturindustrie, die beide nicht wahrhaben wollten, habe ich selbst in meinem Heidegger-Aufsatz, den Sie ja kennen, versucht hinzuweisen. Bedeutet das vielleicht, dass Heideggers Philosophie mit der Deutschtümelei, die er in den Tagebüchern an den Tag legt, gar nicht erst in Einklang zu bringen sei und von weltanschaulichen Fragen völlig frei gehalten wurde oder sind vielleicht doch philosophische Tiefenschichten seines Antisemitismus auszumachen, wenn man seine Rationalismus- und Technikkritik genauer besieht?
Silvio Vietta: Ich denke, eine politische Frau wie Hannah Arendt hätte sich mit Heidegger nach dem Kriege nicht ausgesöhnt, wenn er wirklich ein böser Rassenpolitiker gewesen wäre. „Deutschtümelei“ – Heidegger hat immer an eine speziell deutsche Aufgabe in der Weltgeschichte geglaubt, aber daran glauben offensichtlich viele Politiker heute auch in der sehr unterschiedlichen Form der deutschen Flüchtlingspolitik. Ja, Heideggers Technikkritik steht durchaus in einem inneren Zusammenhang mit Horkheimer/ Adornos „Dialektik der Aufklärung“, die allerdings ihre Thesen vor allem von Georg Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ übernahmen, der seinerseits Max Weber-Schüler war. Heideggers Rationalitätskritik steht in Zusammenhang mit Max Webers These vom „okzidentalen Rationalismus“ als der europäischen Leitkultur. Zu Adorno hat mir Heidegger einmal schmunzelnd erzählt, dieser habe im Haus meiner Eltern in Darmstadt erklärt, er wolle „Heidegger fertig“ machen, das bezog sich auf Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“, in dem er diesen Versuch ja tatsächlich unternommen hat. Beide Denker lagen aber in ihrer Zivilisationskritik nahe beieinander.

Jens Bodemer: In den Schwarzen Heften heißt es einmal: „Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdisch-christlichen Monotheismus.“ Sieht Heidegger also schon damals wie neuerdings Jan Assmann und Peter Sloterdijk im Monotheismus ein Grundübel und eine Ursache der Gewalt und der Barbarei und versucht er seinen unglaublichen Ausspruch, die Juden seien selbst für ihr Schicksal verantwortlich, so zu begründen? Oder bezieht sich dieser Zynismus, die Verantwortung für den Holocaust damit von den Tätern abzulenken, eher auf die Wissenschaft und Technik, das „Gestell“, das die Vernichtungslager möglich machte und durch die Durchrationalisierung und Entzauberung der Welt empor kam, die er übrigens wie Freud und Max Weber mit den monotheistischen Gesetzesreligionen in die Welt kommen sieht? Das ist ja übrigens meine zentrale Fragestellung für die Podiumsrunde in Kirchzarten am 6. Oktober.
Silvio Vietta: Ohne Zweifel ist das eine der unglücklichsten Formulierungen Heideggers. Ich lese sie so, dass nach Heidegger zunächst einmal nicht der Monotheismus, sondern die abendländische Rationalität jene Zivilisation herbeigeführt hat, in der dann auch die Juden als Agenten der Modernisierung wirkten. Diese Kultur der „Machenschaft“ verbraucht die Welt als Material und dabei nun sind die Juden selbst zu Opfern eben dieser Machenschaft geworden. Es ist aber schrecklich, dass Heidegger hier Täter und Opfer in einen Topf wirft, das geht gar nicht und ist auch vom Denkniveau Heideggers her eine Katastrophe. Bei aller berechtigten Seins-Kritik – so kann man mit der Geschichte auch nicht umgehen.

Jens Bodemer: Herr Prof. Vietta, wir bedanken uns für das Gespräch.

Podiumsdiskussion mit Rüdiger Safranski, Peter Trawny und Silvio Vietta: „Wer nicht glaubt, kann nicht denken“ – Ist Heideggers Philosophie eine Religion ohne Gott? Dienstag, 06. Oktober 2015, 19.30 Uhr, Buchladen in der Rainhof Scheune, Kirchzarten-Burg. Eintritt 12,- Schüler/Studenten 6,-. Kartenreservierungen: Tel. 07661-9880921

Ein Gedanke zu „Heidegger in anderer Sicht

  • Ein sehr kluges Interview, Dank dafür.
    Gut, dass Vietta zum Schluss eine klare Distanz artikuliert zu Heideggers Bemerkung über die Opfer, die selbst schuld an ihrem Untergang seien.
    Vietta ist wohl darin zuzustimmen, Heidegger in den Kanon der ´konservativen Revolution´ einzuordnen. Die grundsätzliche Frage bleibt natürlich, ob man Heidegger derart fundamentalistisch deuten kann, dass er sich eben deshalb mit der ´Oberfläche´ der aktuellen Politik kaum verstrickt haben könne. (In dieser Tonart kommt ja auch der neuerliche ´Bocksgesang´ von Botho Strauß daher.)
    Für den Gegensatz zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur hat seit Herders Metakritik an der Kantischen Vernunftkritik schon immer die Sprache das Modell abgegeben. Wir lernen die Sprache und beherrschen sie, ohne uns ihrer Grammatik und Semantik explizit bewusst zu sein. Insofern lebt unsere sprachlich vermittelte Rationalität von einer geschichtlich gewachsenen Tiefenstruktur der Sprache, die von keiner expliziten Rationalität je wird eingeholt werden können – aber auch nicht durch das Geraune einer Metaphysik des Seinsgeschicks. Wird von ´der´ Sprache oder ´dem´ Sein gesprochen, wiederholt sich, was sich als Kritik des (theologischen) Monotheismus geriert. Wie die monotheistischen Religionen vorgeben, von dem ´einen´ Gott zu sprechen, wo doch schon die Pluralität der Monotheismen zeigt, dass jeder im Grunde nur ´seine´ spezifische Version des Gottesbegriffs expliziert, so auch die Metaphysiken ´des´ Seins. Sie hypostasieren den einen Urgrund des Seins, ohne hinreichend präzisieren zu können, was damit eigentlich sinnvoll gemeint sein könnte. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass jede sich noch so fundamentalistisch gebärdende Tiefenanalyse doch selbst nur auf einer sehr speziellen Sprachkonstruktion beruht, die sich zu anderen Welterklärungen an der ´Oberfläche´(wo denn auch sonst?) entweder in Konkurrenz oder auch in Übereinstimmung (wenn auch vielleicht nur partiell) befindet. Und damit sind wir wieder bei der Frage nach der politischen Verstrickung Heideggers in den Nationalsozialismus.
    Vielleicht hat Vietta recht mit seiner These, dass Heidegger keinen „biopolitischen Rassismus“ vertreten habe, dass sein Antisemitismus von anderer Art gewesen sei. Welcher Art genau? Es scheint mir doch sehr fraglich zu sein, diesen Antisemitismus zu verharmlosen, indem man ihm „Tiefenschichten“ zuzuschreiben versucht, die über den „Oberflächenantisemitismus“ erhaben sein könnten.
    Differenzierungen werden vielleicht angebracht sein, aber Vorsicht vor ´seinsgeschicklichen´ Verharmlosungen.

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