Literatur

Radikaler Universalismus oder woke Identitätspolitik (Teil 2): Zum Buch „Links ist nicht woke“ der amerikanischen Philosophin Susan Neiman

In der letzten Ausgabe des Kultur Joker wurde Jean-Philippe Kindlers Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ besprochen. Ähnlich wie er stellt auch Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam, den Gegensatz von Identitätspolitik und Universalismus in den Mittelpunkt ihres Buches „Links ist nicht woke“. Sie nähert sich dem Thema allerdings auf einer prinzipiellen philosophischen Ebene und weniger mit dem Blick auf konkrete politische Strategien wie Kindler.


Auch Neiman verortet sich eingangs ihres Buches als Linke und Sozialistin. Als wesentliches Merkmal zur Unterscheidung linker Politik von liberalen politischen Strömungen nennt sie das beharrliche Reklamieren von sozialen Rechten, die „eine reale Ausübung politischer Rechte erst garantieren“. Liberale Autoren rückten mit Begriffen wie „soziale Sicherung“ zum Beispiel faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnen oder Teilnahme am kulturellen Leben in den Bereich wohltätiger Gewährleistung, während für Linke all diese und viele andere selbstverständliche soziale Rechte Fragen der Gerechtigkeit seien und bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert. Zwar hätten die meisten Mitgliedsstaaten der UNO diese Erklärung unterzeichnet, aber leider ohne rechtlich bindenden Charakter. „Linkssein heißt, darauf zu bestehen, dass diese Ansprüche nicht utopisch bleiben“.
In diesem Zusammenhang beklagt Neiman, dass sich Teile der heutigen Linken von philosophischen Ideen mit zentraler Bedeutung verabschiedet hätten, als da seien: „Ein Bekenntnis zum Universalismus statt zum Stammesdenken, eine klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Überzeugung, dass Fortschritt möglich ist“.
Gedanken, die alle miteinander verbunden seien, im heutigen Diskurs aber kaum noch präsent. Die Linke sei woke geworden!
Als Philosophin stellt sie zunächst klar, das „woke“ eine fatale Bedeutungsveränderung erfahren hat. Das erste Mal verwendete 1938 der unvergessene Bluessänger Leadbelly dieses Wort in seinem Lied „Scottsboro Boys“. Das Lied war neun schwarzen Jugendlichen gewidmet, deren Hinrichtung wegen völlig unbewiesener Vergewaltigungen nur durch jahrelange internationale Proteste verhindert werden konnte und woke meinte wachsam bleiben für jedes Anzeichen von Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Heute wird er überwiegend von der Rechten entweder als Schmäh- und Kampfruf gegen die Linke verwendet (z.B. von Markus Söder, Rishi Sunak oder Éric Zemmour), oder sogar völlig umgedreht als Positivum für Formen eines woken Kapitalismus, der die „Forderung nach Vielfalt zum Zwecke der Profitsteigerung gekapert hat.“ Woker Kapitalismus war 2020 das Hauptthema beim Weltwirtschaftsforum in Davos und in McKinseys Bericht über die Filmindustrie 2021 wird nachgewiesen, dass durch die „Thematisierung der anhaltenden rassistischen Ungerechtigkeit“ sogar jährlich 10 Milliarden Dollar zusätzlicher Gewinn zu erzielen sei. Ähnliches widerfuhr dem Wort „Identitätspolitik“. Neiman zitiert dazu dessen Schöpferin Barbara Smith des Combahee River Collectives, einer schwarzen lesbischen Feministinnengruppe: „Es bedeutet absolut nicht, dass wir nur mit Menschen zusammenarbeiten würden, die so sind wie wir. Unser Credo ist es, mit Menschen ganz diverser Identitäten an gemeinsamen Problemen zu arbeiten.“
Dann verwendet sie viel Mühe, die Idee des Universalismus, der „einst für die Linke bestimmend war“, aufzuarbeiten und philosophisch zu fundamentieren. Für die Linke galt „Internationale Solidarität“ als eine ihrer Hauptparolen, ihr Bezugskreis war die ganze Welt.
„Das verbindende Glied zwischen uns sollten nicht Blutsbande sein, sondern gemeinsame Überzeugungen, dass wir Menschen trotz aller trennenden Unterschiede in Raum und Zeit, im Grunde auf vielfältige Weise eins sind. Die Feststellung, dass unsere Geschichte und unsere Geographie uns beeinflussen, ist trivial. Die Ansicht, dass sie uns bestimmen, ist falsch.“
Der ursprüngliche Impuls ab Mitte des 20. Jahrhunderts, den Heldengeschichten der Sieger die ihrer Opfer entgegen zu stellen, entsprang zunächst einem „Streben nach Gerechtigkeit“. Dann trat eine Verschiebung ein, die gravierende Auswirkungen auf die heutige woke Identitätspolitik zeitigte, indem der „Stellenwert der Opfer neu bestimmt wurde. Was als Empathie begann, schlug geradezu ins Krankhafte um“. Die Opferrolle war nicht mehr allein durch das erlittene Unrecht in welcher Form auch immer bestimmt, sondern ging oft einher mit der Stilisierung der Betroffenen aufgrund ihrer Leiden zu besonders integren Menschen, denen vielfach auch hohe Autorität zugebilligt wurde. In nicht wenigen Fällen wurde dies von Repräsentanten diskriminierter oder verfolgter Gruppen zum persönlichen Vorteil ausgenutzt. Jean Améry, grausam verfolgtes Opfer des Naziregimes, wird von Neiman diesbezüglich aus seinem Buch „Jenseits von Schuld und Sühne“ zitiert: „Opfer sein allein ist keine Ehre“. Ebenso der Philosoph Olúfemi O. Táíwò: „Schmerz, ob geboren aus Unterdrückung oder nicht, ist ein schlechter Lehrer. Leid ist parteiisch, kurzsichtig und ichbezogen. Wir sollten keine Politik betreiben, die etwas anderes annimmt. Unterdrückung ist keine Vorschule.“
Sie schlussfolgert: Man könne in der Sorge für die Opfer eine Tugend sehen, „ohne das Opfersein selbst als Tugend zu reklamieren“. Als warnendes Beispiel, welch bizarre und menschenverachtende Folgen Identitätspolitik auf Basis der „Beschwörung früheren Opferseins“ hervorbringen kann, gibt sie allen Linken, die bewusst oder unbewusst einen universalistischen Grundansatz verleugnen, den „jüdischen Nationalismus israelischer Politiker vom Schlage eines Benjamin Netanjahu“ zu bedenken.

Stammesdenken und Aufklärung
Deshalb und aufgrund weiterer Instrumentalisierungen durch konservative oder rechte PolitikerInnen hält sie das Wort Identitätspolitik für vergiftet und bevorzugt stattdessen den Begriff „Stammesdenken“ nicht zuletzt wegen seines entlarvenden „Anstrichs von Barbarei“.
Natürlich steckt darin leichte Polemik mit dem Ziel, einen unbarmherzigen Finger in die offene Wunde woker Politik zu legen: Diese fokussiert sich in der Regel auf die Analyse der Situation jeweils einzelner diskriminierter oder verfolgter Gruppen und entsprechend auf die Einforderung von speziellen Rechten für die Betroffenen. Konsequenz: Die fundamentale und universalistische Idee von der Gerechtigkeit für alle und das Bewusstsein für den inneren – oder besser – systemischen Zusammenhang als Wurzel aller Formen von Ausbeutung und Unterdrückung bleiben dabei auf der Strecke.
Mehr noch: Die ideellen Fundamente einer woken Haltung gründen nach Neiman oftmals in reaktionären Theoremen etwa von Michel Foucault, den sie als „Paten der woken Linken“ bezeichnet und ihn mit seinen Machtanalysen und der damit verbundenen Leugnung einer Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts in die Nähe des Nazi-Juristen Carl Schmitt rückt.
Dagegen setzt sie eine leidenschaftliche Verteidigung der universalen Ideale der Aufklärung mit der Vernunft als innerer Triebkraft und widerlegt überzeugend die wiederholt gegen Denker wie Rousseau, Diderot und Kant erhobenen Vorwürfe des Rassismus oder Eurozentrismus.
Dieser Teil des Buches ist ein Leckerbissen für philosophisch interessierte LeserInnen, dessen detailliertere Auffächerung den Rahmen einer Rezension sprengen würde. Nur ein Häppchen zum Begriff der Vernunft: „Richtig verstanden ist die Vernunft eine Aufforderung: Finde für alles, was geschieht, den Grund, warum es so und nicht anders ist.“ Und: „Ideale sind nicht daran messbar, wie gut sie der Wirklichkeit entsprechen, die Wirklichkeit wird danach beurteilt, wie sehr sie den Idealen gerecht wird.“

Conclusio
Susan Neiman lässt in ihrem Buch keinen Zweifel an der Unzulänglichkeit woken Denkens im „linken Lager“, von dem man derzeit angesichts seiner gewaltigen Zersplitterung in unzählige monothematische Initiativen und Gruppen eigentlich gar nicht sprechen kann. Sie definiert Grundfesten linker Politik, deren Gültigkeit sie durch Wokeness gefährdet sieht und begründet dies philosophisch mit universalen Kategorien. Es ist stellenweise nicht ganz leicht zu lesen, aber die Mühe lohnt sich allemal. Bei aller Kritik schlägt sie jedoch keine Türen zu. Im Gegenteil: Am Schluss erinnert sie an das Scheitern einer möglichen Volksfront gegen den Hitler-Faschismus, die den 2. Weltkrieg hätte verhindern können, aufgrund ideologischen Starrsinns. Sie resümiert: „Einen ähnlichen Fehler können wir uns heute nicht leisten.“
Neimans und Kindlers Bücher sind wertvolle Impulsgeber für eine Generaldebatte über universale Perspektiven und Praxis linker Politik im Hinblick auf eine grundsätzliche „Umwälzung der Verhältnisse“ angesichts der drohenden Klimakatastrophe, der stetig wachsenden globalen Kriegsgefahren und den immer krasser zutage tretenden nationalen und internationalen Ausbeutungspraktiken des global agierenden Großkapitals.

 

 

Bildquellen

  • „Links ist nicht woke“: Copyright: Hanser Verlag
  • Die Philosophin und Autorin Susan Neiman: © James Starrt