Zur Psychologie von Terror und Gewalt
Im Gespräch: Tilmann Moser – Psychoanalytiker und Therapeut
Der Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler Tilmann Moser (*1938) ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Psychotherapie. In der Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur findet er aufschlussreiches Material für seine Menschenkenntnis. Ganz besonders beschäftigen Moser aber die seelischen Auswirkungen von Krieg, NS-Zeit und Diktaturen sowie die unverstanden gebliebenen Gefühle, die daraus mitunter in Form von Aggressivität oder Depression hervorgehen.
In „Klinisches Notizbuch“ (2014) berichtet er von den Erfahrungen, die seine Arbeitsweise geprägt haben, und gibt mit den Fallgeschichten „Großmütter, Mütter und Töchter“ (2015) einen konkreten Einblick in sein therapeutisches Wirken. Soeben ist das Buch „Kleine politische Texte“ erschienen, in dem er sich etwa mit dem Funktionieren von Terror, Wut und fanatischem Morden auseinandersetzt, aber auch mit dem „Mutterkomplex der Deutschen“, den er in einem fast unendlichen Vertrauen zu Angela Merkel am Werk sieht. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat Tilmann Moser befragt.
Kultur Joker: Herr Moser, wie kann sich ein Mensch für Hass und Terror begeistern, warum faszinieren ihn Gewalt und Machtgefühl und woher stammt die „Erlaubnis zu töten“?
Tilmann Moser: Wenn ich Psychoanalyse, Soziologie und Politik kombiniere, ergibt sich folgendes Bild: sehr viele von den fanatisch entflammten Massenmördern sind schon als Kinder oft traumatisiert, durch Armut, Härte, Familienkonflikte und elterliche Grausamkeit. Sie wachsen oft in einem sozialen, religiösen und stammesmäßigen Hassklima auf, ohne Schuldbewusstsein und Gewissensbildung. Aber das sind nicht die einzigen möglichen Ursachen von Fanatismus und Hass.
Kultur Joker: In ihrem Buch „Kleine politische Schriften“ verbinden sie psychologische und politische Diagnosen und zeigen, dass ein Krieg nicht vorbei ist, wenn die Waffen ruhen, denn er hat die soziale und familiäre Beziehungsfähigkeit empfindlich beschädigt, auch wenn dies lange unbewusst bleibt. Ein Therapeut, der über NS-Zeit, Krieg und Vertreibung als Teil unserer Geschichte Bescheid weiß, kann seinen Patienten besser helfen?
Tilmann Moser: Unbedingt, soweit es sich um ältere Patienten handelt, NS- und Kriegskinder der ersten und zweiten, auch dritten Generation danach. Das Wissen um geschichtliche Vorgänge sowie Einfühlung, Erlösung vom Schweigen und das Aufdecken verschütteter Gefühle und Traumata sind da in der Therapie unerlässlich.
Kultur Joker: Werden die psychischen Folgen von zwei Weltkriegen und Diktaturen, auf die Sie bei der Behandlung individueller Leiden stoßen, erst mit unserem heutigen Wissen verständlich, und woran fehlte es vorher?
Tilmann Moser: Das große Schweigen lag Jahrzehnte über allem, über der Gesellschaft, der Wissenschaft, den Familien, aber auch über der Psychoanalyse – dort bis in die späteren achtziger Jahre. Die deutsche Psychoanalyse hatte bis dahin Angst vor dem Thema, aber auch nicht das therapeutische Instrumentarium, um die Spätwirkungen zu verstehen.
Kultur Joker: Sie untersuchen in Ihren neuesten Texten u.a. das Buch „American Sniper, der Scharfschütze und Rekordkiller“ von Chris Kyle sowie den gleichnamigen Film, der 2013 in den USA sehr erfolgreich war. Was ist das Erschreckende an diesem Psychodrama?
Tilmann Moser: Es ist das fast entsetzlich zu Nennende, an Buch und Film von Kyle, dass er mit seiner soldatischen Mordlust als Scharfschütze im Irak als bedenkenloser Nationalheld gefeiert worden ist, als Inbegriff militärischer Tugend. Ähnliches gilt hundert Jahre früher für das soldatische Berserkertum von Ernst Jünger und sein Sturmtrupp-Selbst- Verherrlichungsbuch „In Stahlgewittern“, das für ein fanatisches Töten des Feindes eintritt; dafür hat er Ruhm, Ehre und sogar den Orden „Pour le mérite“ geerntet.
Kultur Joker: In Ihrer kurzen Abhandlung zu „Stalin“ bieten Sie eine beeindruckende Diagnose dieses Tyrannen. Wie ließe sich diese resümieren?
Tilmann Moser: Wenn man sich den kürzlich im Fernsehen gelaufenen Film über ihn, sowie die Biographie „Der junge Stalin“ (2007) des Historikers Simon Sebag Montefiori vor Augen führt, ist eine tiefenpsychologische Diagnose möglich. Die Kindheit des Georgiers Stalins war gleichzeitig bigott fromm und ein entsetzliches Drama: vergöttert von der Mutter, grausam misshandelt vom Vater. Zudem im streng orthodoxen Internat gepiesackt, durch intellektuellen Drill und vielfachen Verrat und Bespitzelung; frühe Mitgliedschaft in Räuberbanden, absolutes Dominanzstreben und erste paranoide Affekte, Grausamkeit selbst gegen nahe Angehörige, umfassende Rachetendenzen.
Kultur Joker: Als Therapeut begegnen sie den verschiedensten Formen von Hass, die im Extremfall zu blindwütig zerstörerischen Ausbrüchen führen. Ist Fanatismus und die feindselige Wendung gegen Andersdenkende geradezu eine Spezialität von Religionen?
Tilmann Moser: Nicht von Anfang an, denn da ist z.B. die christliche Religion noch als Liebesreligion gedacht, die Feindesliebe einschließt. Aber später ging es bereits bei den missionarischen Kreuzzügen längst um Bekehrung durch Feuer und Schwert, Verabsolutierung, Dogmatisierung; da war der Verdacht gegen Andere, die Verfolgung von Ketzerei und Unglauben, der zu vernichten sei, nicht mehr fern. Sogar seitens des Papsttums gab es Heilige Kriege mit Auslöschungsauftrag, im politischen Bereich fanatische Ideologien mit absoluter Gewissenlosigkeit, Grausamkeit gegen den Feind und gewollte Massenhörigkeit. Die meisten Religionen kennen diese Entwicklung, sogar buddhistische Gruppen in Asien haben sich in jüngster Zeit zu Massenmördern aus religiösen Motiven entwickelt.
Kultur Joker: Ein Text in Ihrem neuen Buch trägt den Titel „Das Gespenst der Wechselwähler.“ Wo sehen Sie die Motive für Beeinflussbarkeit und Anfälligkeit für kraftmeierisches Kompensieren von Frustration?
Tilmann Moser: Wechselwähler sind eine große Herausforderung für alle Parteien, sie machen ihnen sowohl Hoffnung wie Angst, zumal keiner weiß, wie der Trend bei den Unzuverlässigen gerade verläuft. Auf der bewussten Ebene nehmen die für die Wählerwerbung Verantwortlichen an, die Intensivierung von Werbung und Information könne helfen, die Schwankenden in ihre Richtung einzubinden. Sie verwenden optisch einnehmende Gesichter, möglichst tatkräftig und vertrauenerweckend. Politisch-soziologisch orientierte Wahlforscher suchen nach einer Typologie der Unzuverlässigen und finden: Enttäuschung über führende Politiker, veränderte Hoffnungen und Lebensumstände, neue nationale oder internationale Ängste und wachsende Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich nicht mehr durch einfache Parteien- oder Klassenbindung überbrücken lässt. Das verursacht Angst und Orientierungslosigkeit. Vereinfachte Reaktion: „Probieren wir mal was Anderes!“
Kultur Joker: Aber was sind die tieferen seelischen Ursachen für Beeinflussbarkeit, Kränkbarkeit, Rachsüchtigkeit und Anfälligkeit für wellenartige Verunsicherung?
Tilmann Moser: Für den Psychoanalytiker sind frühe Familienschicksale ein wichtiger Faktor für späteres politisches Verhalten. Es gibt viele emotional instabile Familien, in denen spätere Unzuverlässigkeit in Freundschaft, Ehe, beruflichem und politischem Verhalten geprägt werden. Anhänglichkeit gilt hier als Gefahr, rasche Abbrüche von Bindungen erscheinen dann als gängig, wenn nicht sogar als lebensrettend. Der eine Wechselnde ist stolz auf seine gedankliche Anstrengung und kann sie wortreich begründen; der Andere verlässt sich einfach auf schwankende Stimmungen. Borderline-Struktur wird dies in der Psychotherapie genannt, das sich oft ruckhaft neu Entschließen, dabei instabilen inneren Zuständen folgend; eine solche Haltung kann aus unzuverlässigem und destruktivem Familienhintergrund stammen, der die Urteilskraft schwächt. Die tiefenpsychologische Forschung ist sich sicher, dass diese Störungsform die hysterischen oder zwanghaften Typen abgelöst hat und neben der Depression das kollektive Kennzeichen der Zeit ist. Europaweit vollzieht sich ein Trend zu Gruppen mit emotional und politisch vereinfachenden Schlagworten und dumpfen Freund-Feind-Bindungen, sozusagen ein kollektiver Sprung heraus aus dem geistigen Verstehen der komplizierten Wirklichkeit in vereinfachende Denkformen und scheinorientierende Sicherheiten.
Kultur Joker: In der Beliebtheit von Angela Merkel, und einem fast kindlichen Vertrauen der deutschen Bevölkerung in diese lenkende weibliche Figur, sehen Sie einen Mutterkomplex aktiv. Könnten Sie uns diese rätselhafte Erscheinung bitte beschreiben?
Tilmann Moser: Mutterkomplex ist ein zu großes Wort aus der Psychotherapie, womit besagt wäre, dass er behandlungsbedürftig sei. Das würde bisher nur der berühmte Politikarzt Professor Horst Seehofer diagnostizieren. Aber Angela Merkel hat jetzt über ein Jahrzehnt besonnen unser Land verwaltet, das sie trotz enormer Ungleichheit, Armut und drohender Altersarmut weiter für einen Sozialstaat hält. Sie war der Inbegriff einer alleinerziehenden Mutter, die bedrohliche Söhne abgewehrt und kluge Töchter beschützt und befördert hat. So eine Mutterfigur kritisiert man nur in höchster Not, besonders wenn sie für die angeblich mächtigste Frau der Welt gehalten wird. Man könnte nach Großvater Adenauer und den Onkeln Willy und Helmut jetzt durchaus von einer ersten wichtigen Mutterfigur sprechen, Sinnbild und Schutzsymbol, wo die Welt doch so verwirrend unübersichtlich und ängstigend ist. Im Vergleich mit Margret Thatcher wirkt sie mit ihrem Lächeln aber immer noch ziemlich sanft.
Kultur Joker: Sie suchen den Zugang zu den psychischen Schäden, die oft verschüttet sind, auch über Körpertherapie. Wie hat man sich dies vorzustellen?
Tilmann Moser: Für Sigmund Freud und seine inzwischen weltweit zehntausende von Schülern und Nachfolgern war immer klar: Psychoanalyse ist eine Rede- und Sprachkur, beruhend auf dem Austausch von artikulierten Worten und Sätzen und dem Verstehen von formulierbaren Symbolen und seelischen „Repräsentanzen“. Auch der Umgang mit seelischen und körperlichen Gefühlen muss, selbst wenn sie auch Gesten und kleine Körperbewegungen enthalten kann, „verwörtert“ werden. Das Verbot von Berührungen ist in den ethischen Richtlinien vieler orthodoxer Verbände festgeschrieben. Aber die Entwicklung vom Neugeborenen zum Kleinkind verläuft durch lange Stadien von nicht-verbaler Beziehung zwischen Mutter und Kind: Halt, Berührung, Füttern, Laute, Gesten, Augenkontakte, Lallen, ersten nachahmenden Wortfetzen sowie begleitenden mütterlichen Worten. Der Körper bildet dabei ein unendliches Reservoir von leiblichen Erinnerungen und Beziehungserfahrungen aus. Auf diesen sensorischen Gedächtnisspeicher zu verzichten, das bedeutet einen ganzen frühen Kontinent des Lebens abzuschneiden. Infolgedessen boomen seit einigen Jahren vielfältige Formen von Körpertherapien, die aber bedauerlicherweise noch wenig mit dem Reichtum der psychoanalytischen Theorie und Behandlungslehre verbunden sind. Deshalb versucht analytische Körpertherapie, die ich vertrete, neue Zugänge zu finden, durch sogenannte „Regression“ auf frühe Lebensphasen. Darin können berührende Kontakte eingeschlossen sein, etwa einfaches Handhalten – die Hand ist eines der privilegierten Organe der frühen Beziehungsaufnahme –, bis hin zu kraftvoller Gymnastik zur Wiederbelebung erschlaffter depressiver Körper, und weiter bis zu körperlichen Kraftproben zwischen den therapeutischen Partnern, um ein verloren gegangenes Körperbild und Identitätsgefühl wieder zu erlangen oder, noch wichtiger, giftigen Hass in vitale Aggression zu verwandeln. Das oberste Gebot ist – wie auch in der Orthodoxie – eine nicht missbrauchende „Abstinenz“, die aber in der analytischen Körpertherapie ganz andere Formen verlangt. Der Therapeut muss sich seines „Elternkörpers“ sicher sein (der nicht erotisch oder sexuell reagiert), auch dann, wenn etwa PatientIinnen aus Berührungssehnsucht die Beziehung in Verliebtheit verwandeln wollen. Würde der Therapeut auf der gleichen scheinerwachsenen Ebene reagieren, wäre eine therapeutische Katastrophe unvermeidlich. Um dem vorzubeugen, muss der rein analytischen Ausbildung eine gründliche Fortbildung und Selbsterfahrung folgen.
Kultur Joker: Herr Moser, wir bedanken uns für das Gespräch.