Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker skizziert auf dem Vordenker Forum eine „Wärmewende, die funktioniert“
Die Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen, Dr. Lamia Messari-Becker, wird als „Vordenkerin 2024“ geehrt. „Wir müssen die Wärmewende versorgungssicher, nachhaltig und sozial gestalten“, nennt Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker einen Teilaspekt ihres „Masterplan 2050“, den sie am 14. Mai auf dem „Vordenker Forum“ an der Goethe-Universität in Frankfurt skizzieren will. Eine unabhängige Jury* ehrt mit dem Preis seit 15 Jahren herausragende Persönlichkeiten, die maßgeblich an der Zukunft unserer Gesellschaft mitwirken.
Fokussierung auf Strom ist ein Irrweg
„Die gleichzeitige Elektrifizierung von Gebäuden, Verkehr und Industrie und der daraus abgeleitete Einsatz von ausschließlich auf Strom basierenden Systemen ist ein Irrweg“, gibt Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker zu bedenken. Vielmehr müssten neben Strom aus Wind- und Sonnenkraft (Photovoltaik) weitere erneuerbare Energiequellen für Wärme dazukommen. Dazu gehören für sie die Gewinnung von Wärme als „direkte und physikalische Ausbeute etwa über Geothermie und Bioenergie“, beides – wie sie betont – grundlastfähige Energiequellen im Unterschied zu Wind und Sonne. Zugleich fordert sie den systematischen Ausbau der Speicher- und Netzkapazitäten für Wärme und Strom.
Wärmewende ist Strukturwende: Potenziale verschiedener Ansätze nutzen
Für eine erfolgreiche Wärmewende sollte die Energieeffizienz bei Gebäuden über übliche Maßnahmen wie die Dämmung hinausgedacht werden, argumentiert die Vordenkerin 2024. Konkret regt sie an, Potenziale der Digitalisierung im Gebäudebetrieb, der Wärmerückgewinnung etwa aus Lüftung, Abwasser oder industriellen Prozessen sowie der Kraftwärmekopplung besser als bislang zu nutzen. Eine zentrale Rolle misst Messari-Becker der kommunalen Wärmeplanung bei. Hierzu empfiehlt sie vor Ort Kooperationen mit sozialen Wohnungsbauunternehmen, Industrie und Gewerbe, denn grundsätzlich müssen sich auch die gegebenen Strukturen ändern. „Eine Wärmewende ist nicht weniger als eine Strukturwende. Diese vernetzt und diversifiziert zu planen, weitet das Energieangebot aus, schafft Flexibilität, Synergien und macht uns (energie)krisenfester“, sagt sie.
Horizont erweitern – Quartiere im Blick
Neben Einzelgebäuden müssen bei Modernisierungsvorhaben auch Quartiere als Handlungsebene fokussiert werden. Im Quartier lassen sich Gebäudehülle und die Energieversorgung häufig kostengünstiger, umwelteffizienter und sozialverträglicher modernisieren, betont Messari-Becker, die solche Ansätze bereits in politische Initiativen eingebracht hat. „Serielles Sanieren oder gemeinsames Gewinnen, Speichern und Nutzen erneuerbarer Energien bis hin zu Mobilitätskonzepten im Quartier“, seien nur einige Stichworte.
Diversifizierte und technologieoffene Wärmewende
Die Vordenkerin 2024 plädiert für eine „diversifizierte technologieoffene Wärmewende“. Sie begründet: „Da Gebäude mannigfache energetische Qualitäten aufweisen, unterschiedliche technische Voraussetzungen haben und regional verschiedene Gegebenheiten vorliegen, gibt es nicht die eine Lösung, die für alle Gebäude gleich gut funktioniert. Vielmehr braucht es vielfältige Optionen, um die Breite der Gebäudearten, die soziale Situation vor Ort sowie die regionalen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu adressieren. Nur dieses breite Spektrum kann eine Wärmewende ermöglichen, die von der Bevölkerung positiv aufgenommen wird und am Ende vor Ort für alle funktioniert.“
Gasnetze: Modernisierung statt Abrissbirne
Im Diskurs um die Stilllegung und den Rückbau der Gasnetze stellt Messari-Becker klar: Gasnetze gehören erhalten und zukunftsfähig weiterentwickelt, etwa für vielfältige Einsatzoptionen wie unter anderem Biogas, Beimischungen oder Wasserstoff. Gasnetze können bei der Versorgung von schwer sanierbaren Quartieren und in die kommunalen Wärmepläne sinnvoll integriert werden. Die Begründung „Ausstieg aus fossilem Gas“ offenbart für die Ingenieurin Messari-Becker gefährliches Halbwissen. Gas als Molekül ist nicht per se fossil. Erdgas ist fossilen, Biogas und grüner Wasserstoff sind dagegen erneuerbaren Ursprungs. „Ein verfrühter Rückbau kann sich als fataler Irrtum herausstellen. Deutschland wäre jeglicher Flexibilität und Stabilisierung des Strommarktes für immer beraubt“, warnt sie vor unüberlegten Schritten
* Zur Jury gehören der Volkswirtschaftler Prof. Dr. Gabriel Felbermayr als Vorsitzender, Prof. Dr. Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweisen“), der KI-Pionier Prof. Dr. Sebastian Thrun (Vordenker 2022), der Nachrichten-Journalist Dr. Claus Kleber, Prof. Michael Binder, Ph.D., Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Makroökonomie und Empirische Wirtschaftsforschung an der Goethe-Universität, Ex-Bundesministerin Julia Klöckner, Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, Wolfgang Baake, ehemaliger Beauftragter für die Deutsche Evangelische Allianz am Sitz der Bundesregierung, Thorsten Alsleben, Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Prof. Dr. Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, der Plansecur-Geschäftsführer Heiko Hauser und sein Vorgänger Johannes Sczepan sowie die Finanzberater Gunther Otto und Johannes Schäffer.
Bildquellen
- Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker skizziert auf dem Vordenker Forum eine „Wärmewende, die funktioniert“: © Judith Schmitz PHOTOGRAPHY // erstmalig erschienen im polis Magazin für Urban Development