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„Ohne Waffen gegen Hitler“: Studien zum zivilen Widerstand in Europa während der NS-Zeit

Viel zu selten wurde den zahlreichen unscheinbaren Helden der NS-Zeit, die sich dem System auf subtile und unspektakuläre Weise widersetzten, ein Denkmal gesetzt; doch der Historiker Jacques Semelin hat dies mit seiner Studie „Ohne Waffen gegen Hitler“ unternommen.Um bei der „Monstrosität“ der NS-Barbarei nicht stehen zu bleiben, wollte er Verhaltensweisen erforschen, die sich in einer Diktatur als Abweichung zeigen und von Frauen und Männern ungeschützt geleistet wurden.Wie lässt sich die Einstellung derjenigen konturieren, die sich während des Nationalsozialismus eine humane Orientierung bewahren konnten? Einfache Antworten sind nicht möglich.
So rekonstruiert Jacques Semelin in seiner Studie „Ohne Waffen gegen Hitler“ verschiedene Formen zivilen Widerstands gegen das NS-Regime, wie sie in Frankreich, Dänemark, Skandinavien, den Benelux-Staaten und Deutschland stattgefunden haben. Unbewaffneter Widerstand ist erfinderisch, erfolgt durch Taktiken der Verweigerung, verzögertes Arbeiten, Sabotage, heimliches Informieren, Sympathiebekundungen, ironische Aktionen, Ausstellen falscher Papiere, Geldgeschenke oder Fluchthilfe. Durchaus trugen manche der widerständigen Personenfür den Fall einer eventuell notwendigen Selbstverteidigung eine Waffe bei sich. Einige ihrer Handlungsweisen lassen sich unter dem Begriff Zivilcourage fassen; Arno Lustiger spricht bevorzugt von „Rettungswiderstand“, der Historiker Fritz Stern hat die stille, meist heimliche Form des Widerstands als „aktiven Anstand“ charakterisiert. Viele oppositionelle Aktionen schienen zunächst aussichtslos, doch behinderten sie das mörderische Räderwerk der Nationalsozialisten und gelangen häufig.
Jacques Semelin geht nicht nur Formen des Boykotts und der Hilfeleistung nach, sondern zeigt auch, was Menschen dabei im tagtäglichen Kampf bewegte. Als zentrales Beispiel kann der französische Ort Chambon-sur-Lignon dienen, ein mehrheitlich hugenottisches Dorf im Departement Haute-Loire, in dem zwischen 1940 und 1944 mindestens fünftausend Juden vor dem Zugriff der Nazis gerettet wurden; man versteckte sie in Privathäusern, öffentlichen Gebäuden und umliegenden Wäldern, stellte „gefälschte“ Papiere aus oder schleuste sie über die Schweizer Grenze. Rückten Patrouillen der deutschen Besatzer an, so wurden die Verfolgten durch ein Lied gewarnt. Bedeutenden Rettungswiderstand gab es für Emigranten aus ganz Europa zudem in Dieulefit, einem südost-französischen Städtchen im bäuerlichen Umland.Viele nonkonformistisch denkende Menschen waren notwendig, um solche „Heldentaten“ zu vollbringen, zahlreich waren Frauen beteiligt, politisch überzeugte Personen, auch der katholische Klerus. Viele wurden von der bewaffneten Macht perfide ermordet, man denke stellvertretend an Marianne Cohn und ihr Netzwerk.
Eine bemerkenswerte Solidaritätsbewegung während der Shoáh war die Rettung der Juden in Dänemark: 95 Prozent der jüdischen Gemeinde wurden von der Deportation verschont. Das Land war weitgehend frei von Antisemitismus und verfügte über starken sozialen Zusammenhalt. Die dänische Regierung vertrat gegenüber den Nazis einen festen politischen Grundsatz, sie ergriff Partei für die Juden, um einen Grundpfeiler der Verfassung zu verteidigen, die rechtliche Gleichstellung aller Bürger. Es war ein Lehrstück darüber, „welch ungeheure Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln vielfach überlegenen Gegner liegt“, so Hannah Arendt in ihrem Essay „Eichmann in Jerusalem“. Dänemark wurde zum Beweis, dass ein kleines, unbewaffnetes Volk die Möglichkeit hatte, die Logik des Holocaust zu durchbrechen. Freilich ist zu beachten, dass die Nazis gegenüber den Dänen eher vorsichtig agierten, weil sie diese quasi als ihre „arischen“ Verwandten betrachteten. Auch lebten in Dänemark nur rund 8.000 jüdische Staatsbürger, in Frankreich waren es über 300.000; fast die Hälfte von diesen war erst seit 1933 eingewandert, besaß keine Staatsbürgerschaft und war insofern viel schwieriger zu schützen. Nichtsdestotrotz überlebten Dreiviertel von ihnen die Vernichtungspläne der Nazis, vor allem die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen. Serge Klarsfeld und Arno Lustiger haben dies immer betont und für diejenigen, die im Oktober 1940 aus Südwestdeutschland nach Frankreich abgeschoben und verschleppt wurden, ist dies mittlerweile von den Historikern Brigitte und Gerhard Brändle genau recherchiert und in der atemberaubenden Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen. Jüdische Kinder im Lager Gurs: Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung“ festgehalten.
Viel schwieriger war es, in Polen Rettungswiderstand zu leisten, doch gab es ihn sehr wohl. Die Historikerin Christiane Goos zeigt in ihrer Studie „Ich habe mich geschämt, dass ich zu denen gehöre …“ (Verlag v. Hase & Koehler 2020), wie sogar Wehrmachtsangehörige in Polen 1939-1945 Befehle verweigerten und Leben retteten; meisthinter der Front, wo der Kriegseinsatz organisiert wurde und sich die Konzentrationslager befanden. Sie stellten Zivilcourage und Humanität über Befehls- und Gehorsamspflicht, wirkten auf diese Weise der NS-Vernichtungspolitik entgegen, leisteten Fluchthilfe oder erklärten ihre Arbeiter als unverzichtbar, um deren Deportation zu verhindern; manchmal waren sie Retter und Erfüllungsgehilfen gleichzeitig, mitunter stellten sie sich direkt gegen Vernichtungskommandos, etwa in der polnischen Stadt Przemysl.
Bis zum Kriegsende wurde der Rettungswiderstand zur letzten Möglichkeit für Verfolgte; denn der Holocaust stand am Ende einer Entwicklung antisemitischer Kräfte, die anwuchsen, als das internationale Umfeld gleichgültig blieb, etwa seit der Konferenz von Evian von 1938, deren Resultat war, dass kein Land der Welt mehr Verfolgte aufnehmen wollte, diese in ganz Europa in der Falle saßen und von den Nazis gejagt wurden. Auch die Alliierten, obwohl informiert, entwickelten keine Strategie gegen die Vernichtungsmaschinerie, mitten im Weltkrieg war Auschwitz für sie kein Hauptthema. Die selbstlosen Helfer, die ihren Einsatz oft mit dem Leben bezahlten, später teils als „Gerechte unter den Völkern“ gewürdigt, sind das kostbarste ethische Kapital der europäischen Gesellschaften, weil sie die Würde ihrer Mitbürger während einer barbarischen Ära bewahrt haben. Zumeist waren es einfache Menschen, die nie wie Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg bekannt wurden, an Ruhm gar nicht dachten, jedoch über einen humanen Kompass verfügten. Mehr als 27.000 „Gerechte unter den Völkern“ zählt die Gedenkstätte Yad Vashem, was nur die Spitze des Eisbergs ist.Wie Arno Lustiger und Jacques Semelin deutlich machen, dürfen als Rettungswiderstand nicht nur die Aktionen derer gelten, die als „Gerechte“ geehrt wurden, sondern auch die vielen unbekannten Hilfeleistungen, die von Bäckerinnen und Hausfrauen, Bauern, Diplomaten, Geistlichen, Polizisten, Soldaten, Beamtinnen und Beamten der Zivilverwaltung erbracht wurden; ob erfolgreich oder missglückt, sie konnten den Gang der Geschichte nicht aufhalten, ihm aber in die Speichen greifen – wofür ihnen unsere Anerkennung zusteht. Sie zu verschweigen, könnte fatale Folgen zeitigen.

• Brigitte und Gerhard Brändle. Jüdische Kinder im Lager Gurs. Gerettete und ihre RetterInnen. Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, Download: www.irg-baden.de
• Bernard Delpal. Dieulefit. Rettungswiderstand eines Dorfes in der Provence während der Nazi-Besatzung. Aus dem Frz. von Ursula Bös. Brandes & Apsel. Ffm 2021
• Gérard Bollon. Le Chambon-sur-Lignon d’hier et d’aujourd’hui. Ed. Dalmazon 1999
• Jacques Semelin. Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Aus dem Frz. von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag, Göttingen 2021

Bildquellen

  • Jacques Semelin. Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Aus dem Frz. von Ralf Vandamme.: Copyright: Wallstein Verlag, Göttingen 2021