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Östrogen macht aggressiv: Eine Nacht im Leben einer trans* Frau

Samstagabend, 30. Oktober 2021. Der Tag war kacke. Ich beschließe, in der Sonderbar feiern zu gehen, alleine. Meine erste Interaktion habe ich mit einem Typen, der mir unvermittelt in den Schritt fasst, als ich hinter ihm an der Bar auf mein Getränk warte. Mein Herz rast. Ich sollte ihn anschreien. Aber laut kann ich nicht werden, sonst hören alle meine Stimme. Zitternd umklammere ich meinen Drink und tanze ein bisschen vor mich hin, um runterzukommen. Ein Typ spricht mich an. Ob ich auch allein hier bin. Ob ich mit ihm tanzen möchte. Ich stehe zwar nicht auf Männer, lasse mich aber darauf ein. Seine Hand wandert direkt zu meinem Hintern. Er will wissen, ob ich schwul bin. Nein, sage ich, lesbisch. Er guckt verwirrt. „Aber du bist ein Mann.“ Er führt meine Stimme als Beleg an und will wissen, was ich in der Hose habe. Ich schäume fast über vor Wut, Verzweiflung und Selbsthass und bin innerlich total aufgelöst, schaffe es aber nicht, ihn anzugreifen. Ich stürze die restliche Hälfte des Getränks runter und gehe. Einfach nur weg.
Wohin jetzt? Ich lande im Shooters an der Bar. Bald kommt ein Typ zu mir und meint, sein Kumpel fände mich hübsch. Ich solle mal rübergehen, dem sei das peinlich. Warum das? Na ja, sein Freund sei bisexuell und stehe zu 50% auf Männer und 50% auf Frauen. Was zur Hölle?! Erstens muss der nicht auf Männer stehen, um mich hübsch zu finden. Zweitens bin ich kein „Dazwischen“, das nur Bisexuelle interessiert. Und drittens gebe ich mich nicht mit Menschen ab, denen ich peinlich bin.
Eine Frau fragt mich, ob ich ‚Transvestit‘ sei. Ich soll unbedingt ihre beste Freundin kennenlernen. Die ist auch trans*. Sie scheint kein Problem damit zu haben, dass ihre Freundinnen ihr „aus Spaß“ in den Schritt greifen oder „witzige“ Kommentare über ihre Genitalien machen. Mir wird übel.
Denn machen wir uns nichts vor, das sind Grenzüberschreitungen. Das ist Gewalt. Ob kleine Ausschlüsse oder schlimme (sexuelle oder gewalttätige) Übergriffe. Seit meiner Transition (1) erlebe ich diese Gewalt jedes Mal, wenn ich alleine ausgehe. Kein Wunder also, dass unter trans* Menschen Depressionen und Angststörungen weit verbreitet sind. Einer Studie zufolge litt fast die Hälfte aller befragten trans* Menschen an einer Depression und ein Drittel an Angststörungen. Allein unter trans* Frauen in Ontario waren laut einer Studie von 2011 61% depressiv. Die US Transgender Survey hat 2015 herausgefunden, dass 40% der Befragten in ihrem Leben einen Suizidversuch begangen haben – in der Gesamtbevölkerung sind es ein Zehntel.
Leute, die keine Ahnung haben, sagen mir oft, ich sei zu sensibel und solle das alles nicht so ernst nehmen. Aber ich bin da bei der Band Black Square, die in ihrem Song „Biomacht“ schreit: „Ich hab keinen Bock, mich zu beruhigen, ich hab keinen Bock, mich zu beruhigen, ich hab keinen Bock, mich zu beruhigen, ich hab keinen Bock, mich zu beruhigen!”

em, 28, trans*, Aktivistin

(1) Als Transition wird der Prozess bezeichnet, in dem eine trans* Person soziale, körperliche und/oder juristische Änderungen vornimmt, um die eigene Geschlechtsidentität auszudrücken. (www.queer-lexikon.net)

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  • Östrogen macht aggressiv: Eine Nacht im Leben einer trans* Frau: Foto: merlinlightpainting/pixabay