Allgemein

Öffentlicher Brief einer anonymen Gruppe afghanischer Künstler*innen, Kulturschaffender und Journalist*innen #SaveAfghanArtists

Eine Gruppe afghanischer Künstler*innen und Kulturschaffender vertraute der unabhängigen Hilfsorganisation Artists at Risk (AR) einen drängenden Brief zur Veröffentlichung an:

Ein Brief der notleidenden Künstler*innen Afghanistans an Präsident Biden, Premierminister Johnson, Präsident Macron, Bundeskanzler Scholz, Präsidentin von der Leyen, Generalsekretär Stoltenberg, Generalsekretär Guterres und an alle Regierungen und Menschen in der freien Welt. Unsere herzlichen Grüße an Sie!

Wir, eine Gruppe von engagierten afghanischen Kulturschaffenden, schreiben diesen Brief in einer Zeit, in der unsere künstlerischen und kulturellen Aktivitäten brutal unterbunden wurden und wir unsere Tage und Nächte versteckt in unseren Häusern in Armut verbringen. Arbeitslos, ohne Zukunft, in ständiger Angst vor Verhaftung und Tod durch die Taliban, leben wir nicht mehr, sondern existieren nur noch. Eine tiefe Finsternis hat Afghanistan heimgesucht. In den letzten zwei Jahrzehnten hat unsere Generation trotz unzähliger Herausforderungen die Freiheiten und Möglichkeiten genutzt, die sich mit großzügiger Unterstützung der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan eröffneten: Zu studieren, sich fortzubilden und weiterzuentwickeln, um für die Freiheit zu kämpfen und die Menschenrechte zu verteidigen. Wir setzten uns leidenschaftlich für die Wiederbelebung unserer durch den jahrzehntelangen Krieg so schwer geschädigten Kunst und Kultur ein. Es gelang uns, die freie Meinungsäußerung und das Wahlrecht durchzusetzen. Wir konnten Kinos eröffnen, thematisch frei malen, musizieren und singen. Wir drehten Filme, veranstalteten Kunstausstellungen und Musikkonzerte.

Jetzt ist dieses reiche Erbe aus zwei Jahrzehnten durch die Bigotterie der Taliban extrem gefährdet, und unsere Arbeit und freie Lebensweisen haben ein jähes Ende gefunden. Im Laufe der Jahre sind leider sehr viele unschuldige Kulturschaffende den Selbstmordattentaten der Taliban und anderen unmenschlichen Grausamkeiten zum Opfer gefallen. Trotz alledem haben wir weiter gegen ihre düstere Mentalität gekämpft. Unsere Kolleg*innen haben sich mutig vielen Gefahren gestellt. Künstler*innen unserer Generation sind zu blutigen Symbolen für kulturelle Integrität geworden, dem Extremismus abschwörend und für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eintretend. Die Taliban betrachten Kulturschaffende als anti-islamisch. Das ist ebenso verlogen wie gefährlich. Daher haben wir während der jüngsten Friedensverhandlungen unsere Besorgnis über das sehr wahrscheinliche Schicksal der kulturellen Gemeinschaft Afghanistans geäußert, falls das Land an die Taliban fiele. Tragischerweise blieben diese Warnungen aber ungehört. Jetzt befindet sich unser Land in der Gewalt einer barbarischen und zerstörerischen Sekte. Millionen unschuldiger Afghan*innen steht eine düstere Zukunft bevor. Ebenso wie viele unserer Freund*innen in der internationalen Gemeinschaft hofften auch wir inständig, dass in Afghanistan dennoch weiterhin Frieden herrschen könne und dass die Errungenschaften, die Afghanistan in den letzten zwei Jahrzehnten erreicht hat, nicht so einfach zunichte gemacht werden würden. Tragischerweise lief es aber doch anders.

Die Gegenwart zeigt, dass die Redefreiheit, die internationalen Menschenrechte, die Rechte von Frauen und Kulturschaffenden und selbst die Demokratie in Afghanistan ausgelöscht wurden – und damit die Grundlagen des zivilisierten Lebens, die unsere Freund*innen mit uns teilten. Es ist für uns unfassbar, dass so einfach zugelassen wurde, dass die Taliban, eine der größten terroristischen Organisationen, Afghanistan unterwerfen konnten. Eine Gruppe, die Tausende unschuldiger Menschen ermordete, kulturelles Erbe zerstörte, Kulturschaffende tötete und kulturelle Zentren mit unaufhörlichen, brutalen Selbstmord- und Terroranschlägen vernichtete, hat jetzt die Kontrolle übernommen und darf es sich in den luxuriösesten Hotels in Kabul und anderswo gutgehen lassen. Inzwischen üben die Taliban in Afghanistan ihre Schreckensherrschaft aus, zerstören die Zukunft der afghanischen Frauen, schließen die Bildungseinrichtungen für afghanische Mädchen und sorgen für den Zusammenbruch der nationalen Wirtschaft sowie für eine bald drohende Hungersnot, die das Leben von Millionen unschuldiger Afghan*innen gefährdet. Wir werden dieses ungeheuerlich düstere Elend, das sie uns brachten, niemals akzeptieren und wir werden weiterhin mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen ankämpfen.

Und wir fordern die Welt auf, sich zu mit uns zu erheben und gemeinsam dieses Grauen und die Grausamkeiten zu verurteilen, welche in unserem Land täglich zunehmen. Viele Künstler*innen, Kulturschaffende und Journalist*innen befinden sich noch in Afghanistan in der Gewalt der Taliban. Sie sind in höchster Gefahr. Diese Menschen brauchen dringend Hilfe, um das Land verlassen zu können. In einem von den Taliban kontrollierten Afghanistan gibt es keine Zukunft für sie. Offener Widerstand hat unvermeidlich den sofortigen Tod zur Folge, und zu bleiben bedeutet, ihre Berufe, Überzeugungen und Berufungen aufgeben zu müssen — eine qualvolle Form des langsamen Sterbens.

Wir bitten Sie, Herr Biden, Herr Johnson, Herr Macron, Herr Scholz, Frau von der Leyen, Herr Stoltenberg, Senhor Guterres, und alle politisch Verantwortung Tragenden der freien Welt und der internationalen Gemeinschaft, unser Notleiden anzuerkennen in dem Gewahr sein, dass die gegenwärtige Lage Afghanistans nicht nur die Afghan*innen betrifft, sondern alle, die dort mit ihren jeweiligen Mitteln gekämpft haben. Wir bitten Sie dringlichst, uns mit praktischen Schritten zu helfen, uns in Sicherheit zu bringen, damit wir die Kunst und Kultur Afghanistans weiter pflegen und so sicherstellen können, dass die Kultur und der Geist der afghanischen Bevölkerung für künftige Generationen lebendig bleiben. Denn wie Saadi, einer unserer größten Dichter, geschrieben hat:

Adams Kinder sind als Glieder einander verbunden, Da sie der Schöpfung aus einer Perle entstunden. Fügt nur ein Glied Leid hinzu der Welt, Die and’ren Glieder dies in Aufruhr hält.

Mit tiefem Respekt, Eine anonyme Gruppe afghanischer Künstler*innen, Kulturschaffender und Journalist*innen

Bildquellen

  • Eine Gruppe afghanischer Künstler*innen und Kulturschaffender vertraute der unabhängigen Hilfsorganisation Artists at Risk (AR) einen drängenden Brief zur Veröffentlichung an.: Foto: Artists at Risk (AR)
  • Eine Gruppe afghanischer Künstler*innen und Kulturschaffender vertraute der unabhängigen Hilfsorganisation Artists at Risk (AR) einen drängenden Brief zur Veröffentlichung an.: Foto: Artists at Risk (AR)