Mehr als Brasilia: Was die Moderne in Brasilien bedeuten konnte, zeigt das Berner Zentrum Paul Klee in zehn Beispielen
Warum ausgerechnet das Zentrum Paul Klee in Bern eine Ausstellung über die Moderne in Brasilien zeigt, kann Geraldo de Barros‘ Knabenkopf aus dem Jahre 1948 beantworten. Das Foto ist eine Hommage an Paul Klee und wirklich vervollständigen Linien drei Löcher in einem Mauerwerk zu einem Antlitz, das an die naiv wirkenden Zeichnungen Klees erinnert. Doch auch die Ansammlung von kubisch geformten Häusern in Lasar Segalls „Brasilianischer Landschaft“ von 1925 könnten unter dem Einfluss des Schweizer Künstlers gestanden haben. Schaut man sich die Lebensläufe der beteiligten zehn Künstlerinnen und Künstlern an, zeigt sich, dass Brasilien nicht nur ein Einwanderungsland war, sondern wie kosmopolitisch die Kunstschaffenden waren. Für viele war es selbstverständlich, Zeit in Europa, insbesondere in Paris zu verbringen. Doch vor allem ist die Ausstellung „Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne“ eine schweizerisch-brasilianische Zusammenarbeit der beiden Kuratorinnen Fabienne Eggelhöfer in Bern und Roberta Saraiva Coutinho in Sao Paulo, auf deren Grundlage sich viele Türen geöffnet haben. Ab Ende Januar wird die Ausstellung in der Royal Academy of Arts in London zu sehen sein.
Mehr noch als in Europa bedeutet Moderne in Brasilien nicht einen rationalen, formalistischen Entwurf für die Zukunft, wie er sich etwa in Oscar Niemeyers Gebäudeentwürfe für die Hauptstadt Brasilia realisierte. Es ist mehr eine Bricolage verschiedener Vorstellungen, auch geschuldet durch die multi-ethnische Zusammensetzung der Einwohnerinnen und Einwohner des Landes, zu denen europäische Einwanderer, Indigene, Nachfahren gemischter Verbindungen sowie ehemalige Sklavinnen und Sklaven gehörten. Erst 1880 wurde die Sklaverei offiziell in Brasilien abgeschafft, was nicht für alle Schwarze gleich die Freiheit bedeutete. Und Klee war durch sein offenes Kunstverständnis eine Identifikationsfigur für ein derart diverses Verständnis der Moderne.
Oswald de Andrade veröffentlichte 1928 sein einflussreiches Manifesto Antrópofago, in dem er das Bild einer zukünftigen brasilianischen Kultur entwarf, die sich die europäische Kultur einverleibte und verdaute. Er und seine Frau Tarsila do Amaral bildeten einen intellektuellen Zirkel in Sao Paulo. Tarsila do Amaral, die aus einer wohlhabenden Familie aus der Kaffee-Aristokratie stammte und 1886 geboren wurde, machte das Leben auf dem Land und die indigene Bevölkerung oft zu ihrem Thema. 1929 entsteht etwa das Werk „Antropofagia“, das vor einer stilisierten tropischen Landschaft zwei ineinander geschobene Körper darstellt. Während die linke Figur durch die überdimensionierte Brust als Frau zu erkennen ist, könnte die andere Figur ein Mann oder aber auch ein Kind sein. Ihrer beider Füße jedenfalls dominieren den Vordergrund. Ein paar Jahre zuvor malte sie Porträts, etwa das von Sérgio Milliet, das kubistisch beeinflusst scheint. Vicente do Rego Monteiro befasste sich mit den Zeichnungen und Aquarellen von Johann Moritz Rugendas, der Anfang des 19. Jahrhunderts Expeditionen ins Innere des Landes begleitete. Do Rego Monteiro selbst suchte den Kontakt zur indigenen Bevölkerung nicht. In den 1920er Jahren entstehen Bilder von nackten Jungen mit indigenen Gesichtszügen, die in Erdfarben gehalten sind und Tiere und Artefakte einbeziehen. Ein Bild von fünf nackten Schwimmerinnen greift die formale Struktur einer älteren Kreuzigungsdarstellung auf.
„Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne“ steckt voller solcher Überraschungen. Etwa in der Person von Flávio de Carvalho, der als Architekt arbeitete und 1927 den neuen Staatspalast als verschachtelten Lichtdom entwarf, der mit Performances und einem öffentlichen Auftritt provozierte in Rock und transparentem Oberteil, um auf die für das brasilianische Klima untaugliche europäische Kleidung hinzuweisen. Seine Figurendarstellungen wiederum begreifen den Körper als eine aus Farbflächen zusammengesetzte Form. Während die Autodidaktin Djanira in „Drei Orischas“ die afrikanischen gesichtslosen Göttinnen in einem weißen Kleid mit verschiedenem Kopfputz mit beeindruckender Präsenz darstellt. Den Beginn der Moderne in Brasilien eingeläutet zu haben, kam jedoch Anita Malfatti zu. Das Echo auf ihre Einzelausstellung 1917 fiel zumindest geteilt aus, sie malte im Anschluss konventioneller. Doch ein Anfang war gemacht, wohin er führte, zeigt diese sehenswerte Schau.
Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3, Bern. Di-So: 10-7 Uhr. Bis 05.01.25.
Bildquellen
- Vicente do Rego Monteiro: „Mulher sentada“, 1924, Sammlung Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga: Foto: Jaime Acioli
- Tarsila do Amaral: „Povoação I“, 1952, Sammlung Airton Queiroz, Fortaleza Foto: Falcão Junior: © Tarsila do Amaral S/A