Mehr als 70 Künstler*innen im Gespräch: “Café Deutschland” des Städel-Museum Frankfurt
In diesen Zeiten, in denen wir die Kunst nicht im Original erleben können, gibt es viele Strategien um auf Alternativen auszuweichen. Die Museen zeigen Online-Ausstellungen, entwickeln Podcasts oder stellen ihre Sammlungen ins Netz. Kurator*innen besprechen Werke und Museumspädagog*innen entwickeln Formate, die Kinder am Bildschirm verfolgen können. Das Städel-Museum in Frankfurt hat diesbezüglich einige attraktive Formate entwickelt. Aus der Vor-Corona-Zeit stammt eine Präsentation mit dem Titel „Café Deutschland“. Seit 2018/19 findet sie sich auf der Homepage des Museums und wurde sogar für den Grimme-Online-Award vorgeschlagen.
Es ist ein über viele Jahre recherchiertes und realisiertes Oral-History-Projekt, bei dem siebzig Kunstschaffende der BRD zu Wort kommen, die die Kunstszene von der Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung geprägt haben. Alle sind Zeitzeugen, die selbst noch den Krieg und seine Folgen erlebt haben.Häufig sind sie in den Kriegstrümmern der deutschen Städte aufgewachsen, haben Flucht und Armut erfahren. In ihren Lebensgeschichten spielt das keine geringe Rolle. In der jungen Bundesrepublikrichteten sie ihren Fokus auf die Bildende Kunst. Hierfanden sie die Möglichkeit zu geistiger und künstlerischer Auseinandersetzung, hier wollten sie mitgestalten.
Zu den Interviewten gehören Künstler*innen wie Marina Abramoviç, Ulrike Rosenbach, Christa Dichgans, Anselm Kiefer, Günter Uecker, Gerhard Richter oder Peter Dreher.Auch Theoretiker, Museumsleiter, Galeristen und Sammler kommen zu Wort.Alle schildern im Rückblick die spannenden Jahre, in denen die Kunstszene der Bundesrepublik sich wieder an die internationalen Kunstströmungen andocken konnte. Nach der langen Isolation durch die Nationalsozialisten, die ein rigides Kunstdiktat führten, alle modernen Strömungen als „entartet“ brandmarkten und Künstler*innen mit Berufsverbot verfolgten, war in den Nachkriegsjahren eine Menge nachzuholen. Die Sehnsucht nach Öffnung, Anregung und nach Internationalität war groß.
Alle Befragten erzählen aus ihrer Perspektive, von ihren persönlichen Erlebnissen und von kunsthistorischen Meilensteinen der jüngeren deutschen Kunstgeschichte. Die Gespräche fanden über einen Zeitraum von acht Jahren stattund sind unter verschiedenen Aspekten in einem „Montageroman“ zusammengestellt worden. Man kann also die einzelnen Interviews als Ganzes lesen, aber auch eine Montage aus den Gesprächen, die unter fünf Fragestellungen versammelt sind. So entsteht ein abwechslungsreiches zum Teil widersprüchliches Bild, das die individuellen Wahrnehmungen der einzelnen Personen vermittelt. Das Ganze wird begleitet von einem Zeitstrahl der sehr hilfreich die wichtigsten historischen Fakten von 1933 bis 1990 veranschaulicht.
Es ist ein ungemein spannendes und anregendes Projekt. Den Titel „Café Deutschland“ hat sich das Museum vom Maler Jörg Immendorf geliehen, der Ende der 70er Jahre seine berühmte Bilderserie so nannte. Er thematisierte gesellschaftliche und soziale Themen, dazu gehörten die Anti-Atomkraft-Bewegung, der Überwachungsstaat und die Nazivergangenheit. Wiederholt malte er gegen das geteilte Deutschland an. Es macht Sinn, dass die Städel-Verantwortlichen sich für diesen Titel entschieden haben. Das Projekt der von Zeitzeugen erzählten Geschichte endet mit der deutschen Wiedervereinigung 1990. Danach fängt eine andere „Zeitrechnung“ an und ein neues Kapitel im Kunstgeschehen.„Café Deutschland“ ist ein tolles Dokument gelebter Zeitgeschichte. Reinhören, reinlesen!
Hier geht’s zum “Café Deutschland”: www.cafedeutschland.staedelmuseum.de
Bildquellen
- Anselm Kiefer im Gespräch mit Franziska Leuthäußer Croissy-Beaubourg, 26. Januar 2016: Städel Museum
- Katharina Sieverding im Gespräch mit Franziska Leuthäußer Düsseldorf, 07. September 2017: Städel Museum