Massenets Oper „Werther“ in Zürich
Große Emotionen in der Furnier-Wohnlandschaft
Kein Fenster lässt nach draußen blicken, keine Pflanze lockert das triste Ambiente auf. Das Haus – eine einzige Schrankwand! Auch die Decke ist bei „Werther“ im Opernhaus Zürich mit hellem Furnier verkleidet.
In diesen vier Wänden lebt Charlotte (Anna Stéphany) mit ihren Geschwistern und ihrem biederen Vater, dem Amtmann im karierten Anzug (Cheyne Davidson) – in einem eigenen Kosmos, mit einem Rahmen von der Welt abgetrennt. Als Werther das erste Mal auftaucht, um Charlotte zum Ball zu begleiten, kommt er von draußen, bevor er die vom Bühnenbildner Klaus Grünberg gebaute, deprimierende Wohnlandschaft betritt.
Dass in dieser kühlen, sachlich-spießigen Welt auch einmal große Emotionen lodern werden, hat Jules Massenet in seiner Opernadaption von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ schon in der Ouvertüre angekündigt. Bereits die ersten Takte mit der sinkenden Basslinie und den steigenden Akkorden öffnen einen großen Klangraum, der durch das manisch wiederholte, markant punktierte Leitmotiv Düsteres ankündigt. Dirigent Cornelius Meister setzt gleich zu Beginn am Opernhaus Zürich das Drama mit einem großen, runden Orchesterklang in Gang, um danach wieder eine Stufe zurückzugehen und in den ersten beiden Akten eher kammermusikalisch zu agieren.
Regisseurin Tatjana Gürbacas Inszenierung ist nicht frei von Klischees. Charlottes Verlobter Albert legt Socken zusammen, als er nach seiner sechsmonatigen Abwesenheit zurückkehrt und nur die Schwester Sophie (gänzlich unbeschwert und kristallin: Mélissa Petit) vorfindet. Als Werther Charlotte nach der gemeinsam verbrachten Ballnacht seine Liebe gesteht, zieht sie sich Gummihandschuhe an und fängt an, das Geschirr zu spülen (Kostüme: Silke Willrett).
Besonders Juan Diego Flórez braucht ein wenig Zeit, um diesen Werther musikalisch zu zeichnen. In der Höhe wird der Rossini-Tenor zu nasal. Seine Mittellage dagegen ist von Beginn an tragfähig, mit vielen Farbnuancen. Anna Stéphany verkörpert mit ihrem schlanken, warmen Mezzo eine vielschichtigere Charlotte, als es ihr die Regie zunächst zugesteht. Audun Iversen ist mit seinem geschmeidigen Bariton als Albert fast schon ein Sympathieträger.
Nach der Pause nimmt der Abend an Fahrt auf. Das erste musikalische Ausrufezeichen setzt Anna Stéphany mit der vom Altsaxofon begleiteten, weit gespannten Arie „Va! Laisse couler mes larmes“ (Lass sie fließen, meine Tränen). Auch die dramatischen Ausbrüche gelingen der Mezzosopranistin fokussiert und ganz ohne Schärfen. Charlotte emanzipiert sich und sucht das Weite, nachdem ihr Albert einen Kuss auf den Mund gedrückt hat. Die Musik aus dem Orchestergraben entwickelt jetzt den Sog, den sie braucht. Cornelius Meister schärft die Kontraste, ohne dabei die Sänger zu gefährden. Die haben sowieso genügend Strahlkraft, um über dem Tutti zu liegen.
Juan Diego Flórez gelingt nun eine packende Rollenzeichnung, die die existentielle Erschütterung dieses verzweifelt Liebenden in Musik übersetzt. Das Paar der Goldenen Hochzeit gibt Charlotte und Werther den Indianerschmuck und das Krönchen aus der Ballnacht zurück. Die Decke geht auf, die Schrankfächer öffnen sich. Ein Schneetreiben, dessen Flocken sich zu Sternen wandeln, bildet den Hintergrund für den emotionalen Höhepunkt. Werther stirbt zu dem unschuldigen, hellen Weihnachtslied der Kinder (Kinderchor SoprAlti). Und Charlotte verzweifelt als zutiefst Gebrochene.
Georg Rudiger