Kunst

„Magie der Moderne“ – Giorgio de Chirico in der Staatsgalerie Stuttgart

Rätselhafte Bilder von weitreichender Wirkung

Seit jeher gibt das Werk des großen Avantgardisten Giorgio de Chirico Rätsel auf, rätselhaft ist auch immer der Maler selbst geblieben. Diese Bilder sind auf einmal da gewesen, ohne jeden Vergleich, richtungsweisend. Es waren zuerst Künstler, die das Neuartige dieser Bildsprache erkannten, davon angeregt wurden. Sie nannten sich später Dadaisten oder Surrealisten und haben selbst viel bewegt. Es sind nicht nur große Namen wie Magritte, Dali, Ernst oder Grosz darunter. Einige Werke dieser Maler werden in der Ausstellung den Gemälden von de Chirico gegenübergestellt, Gemälden aus seiner genialen Phase, der das Etikett „Metaphysische Malerei“ anhaftet.


Diese Sonderschau der Staatsgalerie konzentriert sich erstmals in Deutschland alleine auf die frühe Schaffensphase von Giorgio de Chirico, auf die Jahre 1915 – 1918. Gezeigt werden jene Schlüsselwerke, die auf die Kunst der Europäischen Avantgarde großen Einfluss hatten. Was die „pittura metafisica“ von de Chirico und anderen ausmachte, so die Kuratoren, sei „eine künstlerische Ausdrucksweise, die minutiös realistisch anmutet, dabei jedoch darauf abzielt, Desorientierung, Verstörung und Beunruhigung zu erzeugen, sowie ‚den großen Wahnsinn’ der Welt und der Dinge zum Vorschein zu bringen.“ Nicht um letzte Fragen wie in der Metaphysik sei es bei dieser Kunst gegangen, sondern um reale Bezüge. Diese allerdings verbargen sich hinter der enigmatischen Aura der Gegenstände, ihrem undurchdringlichen Beziehungsgeflecht, einem optischen Verwirrspiel mit Erfundenem und Wirklichem. Aber gerade durch den Verzicht auf alles Plakative beschäftigen diese Bilder den Betrachter bis heute.

Doch dann hatte der Maler einfach genug davon, solche Bilder auf die Leinwand zu bringen. Diese menschenleeren Plätze mit den harten, langen Schlagschatten und geheimnisumwitterten Arkaden; diese Räume, in denen Unzusammenhängendes in kühner Kombinatorik versammelt ist; diese puppenhaften, bizarren Wesen, die wie auf einer Bühne in Erscheinung treten; diese komplexen Interieurs einer anderen, nie gesehenen, erträumten oder erfundenen Wirklichkeit. Obwohl vordergründig alles äußerst konkret und gegenstandsgetreu dargestellt ist, lässt sich das Inventar der Bilder in ihrer Symbolik nicht erschließen. Dachte der Maler sich etwas dabei, oder folgte er nur seinen Eingebungen? De Chirico hat es vermieden, Erklärungen abzugeben. Was uns bleibt ist das Staunen vor diesen gut gebauten, farbstarken Gemälden, die getaucht sind in das Licht von Dämmerstunden. Was bleibt ist das Geheimnis, die Magie. Vielleicht ist es nicht mehr oder nicht weniger als das Mysterium der Moderne selbst, geschaffen von einem einzelnen Mann. Wer war dieser Mann?

Der Italiener Giorgio de Chirico wurde 1888 in Griechenland geboren. Nach dem Tod des Vaters zieht die Mutter 1906 mit ihren beiden Söhnen nach München, wo Giorgio ein Studium der Malerei beginnt. Intensiv arbeitet er mit seinem Bruder Alberto zusammen, sie lesen Nietzsche und Schopenhauer. In den folgenden Jahren sind es die Stationen Mailand, Florenz und Paris, wo es zu Begegnungen mit Künstlern und Dichtern kommt. Auf der Piazza Santa Croce in Florenz soll Giorgio de Chirico ein erstes „Offenbarungserlebnis“ für seine künftige, metaphysische Malerei bekommen haben, in denen Gebäude norditalienischer Städte erkennbar bleiben. Als der 1. Weltkrieg ausbricht, melden sich die Brüder zum Militär, doch aus gesundheitlichen Gründen müssen sie nicht an die Front. In der Provinzstadt Ferrara erhalten sie eine Schreibtätigkeit, mit der Mutter teilen sie zu dritt eine Wohnung. Es bleibt viel Zeit zum Malen.

In Ferrara entstehen auch diese ca. 50 Werke, die auf immer mit dem Namen Giorgio de Chirico verbunden sein werden. Danach wendet sich der Künstler davon ab und malt nur noch, und das höchst produktiv, über 70 Jahre neoklassizistische Bilder, in denen nichts mehr an sein Frühwerk erinnert. Gelegentlich kopiert er das eine oder andere Bild aus der „Ferrareser Periode“ für solvente Kunden nach Reproduktionen, ohne freilich die Ausstrahlung der Originale mitliefern zu können. Es mutet an wie ein Verrat. Oder war es die bloße Geringschätzung seines Genies, war es Verweigerung? Frühere Bewunderer seiner Malerei wenden sich ratlos von ihm ab. Sein Name gerät in Vergessenheit. Erst mit der Wiederentdeckung des Surrealismus in den 1960er und 1970er Jahren taucht das geniale Frühwerk de Chiricos wieder aus der Versenkung auf, gewinnt das Interesse einer größeren Öffentlichkeit, wird postkartentauglich.

Die Staatsgalerie Stuttgart kann sich glücklich schätzen, als eines der wenigen Museen in Deutschland ein Meisterwerk de Chiricos aus dieser für die Kunstgeschichte so fruchtbaren Periode in Ferrara zu besitzen. Es trägt den Titel „Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik“ und bildet den Ausgangspunkt für diese grandiose Sonderschau in der Stirling-Halle.

„Magie der Moderne“, Staatsgalerie Stuttgart, Di – So 10 – 18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Bis 3. Juli.

Peter Frömmig