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Märchen versprechen zeitlose Werte: Im Gespräch mit der Märchenforscherin Sabine Wienker-Piepho

Mythos, Fabel, Märchen – Dinge aus anderen Welten, die mündlich erzählt oder auch verschriftlicht werden: sie haben irgendwie immer Konjunktur. Gerade dann, wenn die Menschen auf der Suche nach Identitätsstiftung sind, wie im 19. Jahrhundert im Zuge der Entstehung der europäischen Nationalstaaten – oder wenn, wie heute, Krisen-Situationen die Gesellschaften betreffen. Martin Flashar sprach auch deswegen jetzt mit der Märchenforscherin Sabine Wienker-Piepho.

UNIversalis: Liebe Frau Wienker-Piepho, wie kamen Sie auf den Gedanken sich mit Märchen beschäftigen zu wollen – eine Idee, die dann ihr gesamtes wissenschaftliches Leben bis heute bestimmte?

Wienker-Piepho: Naja, das hing wie so oft in universitären Karrieren mit Menschen und zufälligen Begegnungen zusammen: Ich war mit meinen bisherigen Studienfächern (Massenfächer wie Germanistik und Anglistik) nicht mehr so wirklich glücklich und fand durch eine Anstellung im Freiburger Volksliedarchiv zur etwas intimeren Volkskunde, deren Leiter damals ein weltberühmter Märchenforscher war: Lutz Röhrich. Da entdeckte ich den Reiz der Internationalität dieses Faches und tummelte mich auf Tagungen und Konferenzen in aller Welt, schloss wunderbare Freundschaften und begriff zunächst einmal, dass auch das Lied, besonders die gesungene Volksballade eigentlich nichts anderes ist als ein mündlich überliefertes Narrativ mit viel Nähe zum Märchen.

UNIversalis: Was ist denn der Unterschied zwischen ‚Volksmärchen‘ und ‚Kunstmärchen‘?

Wienker-Piepho: Für meinen Ansatz ist das die entscheidende Frage. Von den Kunstmärchen kennen wir die Verfasser und im günstigsten Fall auch Ort und Zeitpunkt des Entstehens. Kunstmärchen sind Produkte eines Dichters oder – seltener – einer Dichterin. Volksmärchen sind dagegen anonym, mündlich überliefert, nicht konkret zu verorten, und oft hunderte oder gar tausende von Jahren alt.

UNIversalis: Warum sind die Gebrüder Grimm so wichtig?

Wienker-Piepho: Verzeihen Sie, wenn ich korrigiere: Wir sagen nicht mehr „Gebrüder“, sondern „Brüder Grimm“ – Gebrüder klang den Erzählforschern zu sehr nach Firma… Aber ihre Frage bewegt sich genau auf der Nahtstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (wie auch ein Freiburger Sonderforschungsbereich hieß): Die gelehrten Professoren Jacob und Wilhelm Grimm haben die etwas mehr als zweihundert Volksmärchen in ihrer Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ ja nicht erfunden und gedichtet, sondern gesammelt. Anders als Andersen und Hauff, Tieck und sogar Goethe. Mit diesem 1812 erschienenen und schnell in viele Sprachen übersetzten Bestseller, der nach der Bibel bis heute die höchste Auflage aller deutschsprachigen Bücher hat, traten sie eine Modebewegung los: In ganz Europa begann man nun mit ähnlichen Projekten, weil man der Auffassung war, dass sich in diesen alten Überlieferungen vielleicht doch Relikte aus einer vorchristlichen Vorstellungswelt erhalten hätten. Auf Kinder fixierte Märchenonkels waren die Brüder Grimm jedenfalls nicht!

UNIversalis: Was mich besonders interessiert: Spielen Märchen an „Zeitenwenden“ eine besondere Rolle – und, wenn ja, welche?

Wienker-Piepho: Natürlich. Gerade an Zeitenwenden, die stets auch mit Epochenüberschneidungen verbunden sind, weiß man aufgrund von extremen Verunsicherungen nicht mehr, ob man sich noch auf tradierte Werte verlassen sollte, oder lieber nicht. Dann geht die Suche nach zeitlosen Werten los, seien diese nun kulturabhängig oder nicht. Und so kommen die Märchen wieder ins Spiel, was sich auch an Mitgliederzahlen entsprechender Gesellschaften zeigt (Märchenstiftung Walter Kahn, Europäische Märchengesellschaft). Märchen sind gerade „in“ wie noch nie! Und da aktuell angesichts der Digitalisierung unserer Welt und der nahen Kriege von „Zeitenwende“ oft die Rede ist, spielen Märchen mit ihren überzeitlichen Werten möglicherweise wieder eine wachsende Rolle. In den letzten Jahren hat man zudem das Erzählen selbst, also die performative Seite, neu entdeckt. Und so gibt es inzwischen allein im deutschsprachigen Raum über tausend professionelle Märchenerzähler*innen. Hinzu kommen steigende Abonnentenzahlen bei den entsprechenden Zeitschriften, dem „Märchenspiegel“ (Deutschland), „Mutabor“ (Schweiz) und der Fachzeitschrift „Fabula“, die in drei Sprachen erscheint. Auch sprechen die Auflagenhöhen von optisch sehr ansprechend illustrierten Märchenbüchern für Kinder und Erwachsene eine eigene Sprache. Dies Genre behauptet sich. In Zeitenwende-Zeiten zeigt sich der allgemeine Märchenboom also offenbar auf ganz verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichsten Sparten.

UNIversalis: Können Sie noch ein weiteres Beispiel nennen?

Wienker-Piepho: Wenn Sie ein Märchen- oder auch Sagenbeispiel meinen, so ist die Auswahl unter den Millionen von Texten aus aller Welt natürlich nicht einfach. Wenn Sie aber an ein gattungsübergreifendes uraltes Motiv wie den Vogel Phönix denken, dessen ständige Wiedergeburt aus Asche auch immer Zeitenwenden markiert, dann stimmt die Richtung. Auch Utopien wie die vom Schlaraffenland oder die vom süßen Brei helfen in all ihrer symbolischen Bildlichkeit nicht nur Kindern oder Esoterikern und den ewig Rückwärtsgewandten. Und wenn Sie an all die jenseitigen Helfer der Zaubermärchen denken, dann wird doch eigentlich klar, dass ein Kollektiv so etwas nicht ohne Grund erfindet, oder?

UNIversalis: Nicht alles ist schön und friedlich in Märchen, es gibt auch viel Zwist? Welche Rolle spielt das Motiv der Versöhnung?

Wienker-Piepho: Diese Frage ist so einfach nicht, wie sie zunächst klingen mag. Die schöne heile Märchenwelt gibt es nicht, allenthalben wird gestritten, gelogen, gemordet und gekämpft. Der Begriff „Versöhnung“ ist in unserem Kulturkreis vor allem mit der christlichen Religion konnotiert, und wenn Versöhnung in Märchen vorkommt, sind diese Geschichten zumeist nicht sehr alt oder christlich überformt (interpretatio christiana). Kompliziert ist deswegen auch die jeweils detaillierte Altersbestimmung von Einzelmotiven. Andererseits kann sie auch ganze Kongresse oder Tagungen als Thema verklammern. Damit verbunden ist auch die durch den US-amerikanischen Psychologen Bruno Bettelheim in den frühen 1970er Jahren entfachte (und von ihm selbst später korrigierte) Grausamkeitsdebatte („Kinder brauchen Märchen“), die heute als überholt gilt. Märchen mit ihren brutalen Bestrafungen des Bösen malen diese Brutalitäten niemals detailliert oder gar genüsslich aus und gelten dennoch als Warn- oder Schreckerzählungen, die Orientierungshilfen bieten.

UNIversalis: Welches ist denn Ihr Lieblingsmärchen?

Längst Wahrzeichen am Ort: „Die Bremer Stadtmusikanten“ von Gerhard Marcks, Bronze-Plastik vor dem Rathaus, 1953 © Wuzur

Wienker-Piepho: Schwer zu sagen, aber eigentlich bleibt es doch unser „Rumpelstilzchen“, weil man daran so Vieles zeigen kann. Auch die „Bremer Stadtmusikanten mit ihrem berühmten Kernsatz „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ gefallen mir sehr – als Geschichte über ein aufmüpfiges Rentnerkollektiv von Hausbesetzern eignet sie sich so wunderbar für parodistische Umsetzungen und für die Bühne. Auch gehört dieser Märchentyp zum weltweiten Kulturgut, weshalb neben der Stadt Bremen noch viele andere Städte als Ziel der Tiere in Frage kommen.

UNIversalis: Sind Sie die einzige Märchen-Forscherin derzeit?

Wienker-Piepho: Nein, das kann man so nicht sagen, denn die Märchenforschung ist ja auf viele Disziplinen der Geisteswissenschaften verteilt (Germanistik und die Literaturwissenschaften anderer Länder, Ethnologie, Psychologie, Pädagogik und andere). Aber in unserem Fach Volkskunde, das sich jetzt in Deutschland in „Empirische Kulturwissenschaft“ umbenannt hat, ist die Erzählforschung nicht mehr so gefragt. Manche behaupten sogar, weil es sich um „überforschtes“ Gebiet. handele. Im Ausland, wo sich die Erzählforschung als „Folkloristics“ oder „Narratology“ eher im Aufwind befindet, ist das anders.

UNIversalis: Gibt es auch Märchen, die mit dem Schwarzwald zu tun haben?

Wienker-Piepho: Ja, natürlich – werden Viele sofort sagen –, schließlich gibt es Hauff und „Das kalte Herz“ – aber wieder ist es so einfach nicht, denn Hauff war ja, wie bereits erwähnt, ein Kunstmärchendichter der Romantik. Wenn man aber wieder etwas allgemeiner nach den Verortungsmöglichkeiten von Volksmärchen fragt, dann kommt der Tourismus ins Spiel und die Sache wird immer problematischer. Grundsätzlich lassen sich Märchen niemals verorten, wie man schon am Beispiel der Bremer Stadtmusikanten sehen kann. Und die bekannte Deutsche Märchenstraße, die hauptsächlich Japaner und Chinesen anlockt, hat nichts mit bestimmten Märchen zu tun, auch wenn irgendwelche Lokalmatadoren Märchen wie Schneewittchen oder Dornröschen immer wieder für ihre Heimaten reklamieren. Das ist einer der großen Unterschiede des Märchens im Vergleich zur Sage, besonders zur historischen Sage, die geglaubt werden will (fabula credibilis). So gehören Ortsangaben zu den festen Eingangsformeln von Sagen, auch von den modernen urban legends, für die sich die Forschung zunehmend interessiert. Der Schwarzwald hat eine ganze Reihe von Sagen, aber keine Märchen hervorgebracht.

UNIversalis: Wenn Sie Studierenden heute einen Buch- oder Film-Tipp geben wollten …

Wienker-Piepho: Wie wär’s mit einem Klassiker, mit dem unsterblichen Cocteau-Film „La Belle et la Bête“ von 1946? Das ist „Die Schöne und das Biest“, ein in Frankreich sehr verbreitetes Märchen, dem in der Grimm-Sammlung „Das singende springende Löweneckerchen“ entspricht. Jean Marais spielt das Tier, das Biest, das sich nachher in einen wunderschönen Prinzen verwandelt. So ein „Tierbräutigam“ ist ein uraltes Motiv (man denke auch an den Froschkönig!) und dieser Märchentyp geht als „Amor und Psyche“ zurück bis auf den römischen Dichter Apuleius.

UNIversalis: Wir danken für das anregende Gespräch.

 

Sabine Wienker-Piepho © privat

Zur Person:
Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho studierte in Freiburg und Göttingen Germanistik, Geschichte, Politologie und Amerikanistik – im zweiten Anlauf zusätzlich Volkskunde. Sie wurde 1987 in Freiburg promoviert, 1998 folgte die Habilitation. Gelehrt hat sie u.a. in Augsburg, Bayreuth, Innsbruck, Jena, Jyväskylä, Minsk, München, Münster, Tartu, Vilnius und Zürich. Als Ethnologin mit dem Schwerpunkt Erzählforschung und Chefredakteurin des Magazins „Märchenspiegel“ gilt sie international als Märchen-Expertin.

Bildquellen

  • Längst Wahrzeichen am Ort: „Die Bremer Stadtmusikanten“ von Gerhard Marcks, Bronze-Plastik vor dem Rathaus, 1953: © Wuzur
  • Sabine Wienker-Piepho: © privat
  • Sehnsuchtsort in der Renaissance: „Schlaraffenland“, Ölbild von Peter Bruegel dem Älteren, 1567: © Alte Pinakothek, Kunstareal