Mit Handschuhen ins Abenteuer
Das Lucerne Festival wagt mit dem Schwerpunkt „Kosmos Stockhausen“ viel
In diesem Jahr wäre Karlheinz Stockhausen 90 Jahre alt geworden. Das Lucerne Festival 2018 widmete dem Pionier der Neuen Musik Anfang September einen Schwerpunkt, der dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard alles abverlangte. Ein Festivalbericht.
„Es besteht Lebensgefahr“, kreischt ein Kind mit Hasenohren (Fionn Berchtold) durch das Megaphon. „Es geht um ihre Zukunft!“ Das Publikum vor dem Luzerner Theater bleibt entspannt. Und lässt sich ein auf diesen besonderen, einstündigen Musiktheaterabend „Kindertotenlieder“ in der hölzernen „Box“, die Intendant Benedikt von Peter neben dem eigentlichen Theatergebäude permanent als Außenspielstätte nutzt.
In diesen von ihm selbst inszenierten Gustav-Mahler-Liedern, einer Koproduktion mit dem Lucerne Festival, möchte der innovative Theatermacher, der ab der Spielzeit 2020/21 als neuer Intendant des Basler Theaters beginnt, Verlust und Trauer musiktheatralisch erlebbar machen. Deshalb wird man einzeln und fürsorglich an seinen Platz begleitet. Deshalb ist der Raum bis auf wenige Schwarzlichtröhren, die später ausgeschaltet werden, abgedunkelt. Nur eine Kerze in der Mitte spendet Licht.
Man soll selbst die Einsamkeit und Leere spüren, die der Dichter Friedrich Rückert nach dem Tod zweier seiner Kinder in Worte und Gustav Mahler in Musik gefasst hat. Ein Paar (Sarah Alexandra Hudarew und Jason Cox) steht im Dunkeln und hat sich voneinander abgewendet. Der britische Sound-Künstler Matthew Herbert imaginiert mit eingespielten Geräuschen den Alltag dieses Paares, wenn um 8.33 Uhr das Zähneputzen beginnt und wenig später der Zünder eines Gasherds durch die Lautsprecher klickt.
Erst nach zehnminütiger Geräusch-Collage beginnt die Mezzosopranistin Sarah Alexandra Hudarew mit dem ersten Lied „Nun will die Sonn‘ so hell aufgehn“. Sie wird begleitet von zwölf Mitgliedern des Luzerner Sinfonierochesters unter der Leitung von Clemens Heil, die im Raum verteilt sind und sich gleich nach dem letzten Akkord auf eine andere Position begeben (Bühne: Márton Ágh), während der Ton elektronisch weiterklingt. Aufwühlen kann die Produktion aber nicht. Statt Beklemmung entsteht eher Langeweile. Der Schmerz ist mehr behauptet als gefühlt.
Neue Räume entdecken möchte auch das Lucerne Festival. Die meisten Veranstaltungen wie die insgesamt über dreißig Symphoniekonzerte finden beim einen Monat dauernden Klassikfestival zwar nach wie vor im akustisch hervorragenden Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) statt, aber für die kleinformatigeren Projekte trägt man das Festival noch weiter in die Stadt hinein.
Im Kulturzentrum Neubad, einem früheren Schwimmbad, trifft man sich zu später Stunde, um Karlheinz Stockhausens „Stimmung“ für sechs Vokalsolisten zu lauschen. Ähnlich wie bei den „Kindertotenliedern“ gruppieren sich Akteure und Publikum um eine zentrale Lichtquelle. Nach und nach betreten die Solisten das weißgekachelte Becken und nehmen im Schneidersitz auf den Kissen Platz.
Das andächtige Publikum wird zur Gemeinde, das den Obertonklängen lauscht, die die Basler SoloVoices mit ihren Kehlen zaubern – elektronisch verstärkt und durch den Raum geschickt (Klangregie: Florian Bogner). Jean-Christophe Groffe macht mit seinem profunden Bass den Anfang und stellt mit dem Kontra-B den Ton vor, auf dem die ganze 70-minütige Komposition fußt. Wiederholung und Variation prägen das meditative A-Cappella-Stück, in das Stockhausen auch einige magische Götternamen und eigene erotische Zeilen eingebettet hat.
Mit dem gemeinsamen Meditieren, der angestrebten Harmonie und der Gleichberechtigung der Stimmen übernimmt Stockhausen im 1968 in Paris uraufgeführten „Stimmung“ Elemente der Hippie-Kultur in seine Musik.
Zum 90. Geburtstag hat das Festival dem 2007 gestorbenen Avantgarde-Komponisten einen Schwerpunkt gewidmet, der an zwei Wochenenden den Kosmos dieses Klangtüftlers ausmisst (Dramaturgie: Mark Sattler). Pierre-Laurent Aimard stellt sich in der gut gefüllten Kirche MaiHof mit den elf Klavierstücken einer gewaltigen Aufgabe.
Zwischen den einzelnen Werken spürt man kurz seine Erschöpfung, bevor sich der französische Pianist wieder mit einer unglaublichen Präzision und Intensität in das nächste Abenteuer stürzt: von den mit Einzeltönen geprägten, frühen Klavierstücken von 1952 über die den Nachhall erkundenden mittleren bis zu den hochkomplexen Klavierstücken 9-11, in denen das Instrument bis an die Grenzen geführt wird.
Aimard hat sich dafür Handschuhe mit freien Fingerkuppen angezogen, um die Glissandi und extremen Cluster mit der notwendigen Wucht realisieren zu können, ohne Schäden davonzutragen. Am Ende gibt es stehende Ovationen für immer noch aufregende Neue Musik.
Auch im ausverkauften Luzerner Saal des KKL ist die Begeisterung groß, als sich Simon Rattle, Duncan Ward und der für Matthias Pintscher eingesprungene koreanische Dirigent Jaehyuck Choi am Ende von Stockhausens epochemachender Komposition „Gruppen“ (1955-57) gemeinsam vor die drei Orchestergruppen des Lucerne Festival Orchestra und London Symphony Orchestra stellen, die hufeisenförmig um das Publikum platziert sind.
Musik als Raumklang mit komplexesten Rhythmen und differenziertesten Klangfarben!
Bildquellen
- kultur_joker_musik_kosmos_stockhausen_aimard_c_manuelajans_lucerne_festival: Manuela Jans