Nachhaltig

Lesen ohne Atomstrom: Kultur schaffen – Profit-Lobbyismus enttarnen

Nein, das ist kein objektiver Bericht. Hier schreibt eine, die begeistert die Wirkung von Gegen-Kultur erleben durfte, vom Publikumssitz aus, kurz auf der Bühne, hinter den Kulissen und im Gespräch mit Insidern. Sie hat erlebt, wie wichtig die Rolle der Kultur im Kampf für eine bessere Welt ist und in Hamburg mitgefeiert, dass David Goliath besiegte.
Stell Dir vor, Du betreibst Kohle- und Atomkraftwerke und jedes Jahr im April sind die Zeitungen voll mit negativer Presse zur Atomenergie, weil sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April jährt. Was tust Du, wenn Dir die Kund:innen in Scharen davonlaufen? Wenn mit jeder Frühjahrs-Welle von Super-GAU-Reportagen weitere Menschen auf die Idee gebracht werden, sich vom Atomstrom zu befreien und Dir den Geldhahn abzudrehen?
Da könnte man doch auf die Idee kommen, dieses wiederkehrende Ärgernis mit freundlicher Berichterstattung zum eigenen Unternehmen aus den Medien zu verdrängen. Als Konzern engagiert man für solche Aufgaben eine PR-Agentur. In diesem Fall eine, die von sich sagt: “Wir produzieren faszinierende Geschichten“. Mit einer umtriebigen Agentur-Chefin, die damit wirbt „Kontakte in die Welt der Literatur, Kunst, Wissenschaft und Musik“ zu vermitteln.
Ob es Zufall oder Vorausschau war, dass die ‚Vattenfall Lesetage‘ 1999 erschaffen wurden, kurz nachdem ein neues Gesetz allen Verbraucher:innen beim Stromanbieter freie Wahl einräumte, ist nicht geklärt. Der Strom-Konzern Vattenfall pumpte nach eigenen Angaben „erhebliche Summen“ in diese spezielle Art der Presse-Landschafts-Pflege. Das Timing war geschickt: jedes Jahr im April konnte das positive Kulturförderer-Image des Stromriesen viel Raum in der Norddeutschen Presse-landschaft einnehmen. Sonst waren in der Zeit vor dem Tschernobyl-Jahrestag die Medien voll mit Cäsium, Pilzen, Wildschweinen. Stories vom teuren Reaktor-Sarkophag und im Stich gelassenen Liquidatoren wucherten wie Krebsgeschwüre durch alle Rubriken. Über derart schreckliche Folgen der „sauberen Atomkraft“ schreibt es sich vielleicht nicht ganz so freimütig, wenn man kurz zuvor noch freundliche Texte über den zahlungskräftigen Kultur-Sponsor und Anzeigenkunden in die Tastatur gehauen hat.
Es ist nicht bekannt, wie „erheblich“ die Summe war, mit der die PR-Agentur Heinekomm im Auftrag von Vattenfall sogenannte „Medienpartnerschaften“ mit dem Norddeutschen Rundfunk und dem Hamburger Abendblatt organisierte. Hinter dem harmlos-partnerschaftlichen Begriff verbirgt sich eine Kollaboration zwischen Lobby und Medienverlagen, die das Zeug dazu hat, Journalismus und Pressekodex ad absurdum zu führen.
Die Greenwash-Strategie, die sogar von der Hamburger Landesregierung unterstützt wurde, funktionierte solange, bis sich im März 2011, mit der Dreifach-Kernschmelze von Fukushima, ein weiterer Atomkatastrophen-Gedenktag vor den „kulturellen Frühling“ schob und so das geniale Lobby-Timing zerschredderte. Was die Meinungsmanager:innen aber so richtig ärgerte war, dass die Anti-Atom-Bewegung selbst aktiv geworden war und mit literarischen Konkurrenzveranstaltungen das Saubermann-Image der strategischen Partner der ‚Vattenfall-Lesetage‘ nachhaltig ankratzte. Die ‚Erneuerbaren Lesetage‘ sorgten im April 2011 vor dem Vattenfall-AKW Krümmel unter dem Motto ‚Lesen ohne Atomstrom‘ für Furore. 2000 Gäste erlebten Musiker:innen, Kabarettist­:innen, Bestsellerautor:innen und Wissenschaftler:innen. Bekannte Namen wie Nina Hagen, Günter Grass, Jan Delay, Iris Berben, Udo Lindenberg, Hannes Jaennicke, Elke Heidenreich u.v.m. sorgten seitdem für Frühjahrs-Schlagzeilen.

Kuratorin der ‚Vattenfall-Lesetage‘ bedrängt ‚Lesen ohne Atomstrom‘-Autor:innen Stromkonzern distanziert sich von Angriff auf die Konkurrenzveranstaltung
2013, im dritten Jahr von ‚Lesen ohne Atomstrom‘ ging es mit der PR-Kuratorin durch. Frau Heine verschickte finstere Mails an die Künstler:innen. Sie sollten sich überlegen, ob sie „zu Totengräbern eines traditionsreichen Literaturfestivals“ werden und sich mit einem Veranstalter „mit Kontakten zur autonomen Szene gemein machen“ wollten. Vom „massiven Bedrängen durch die Helfershelfer Vattenfalls“ wurde berichtet, damit die Autor:innen und Unterstützer:innen ihre Teilnahme an den „Erneuerbaren Lesetagen“ absagen. Denn diese Veranstaltung wäre von einem „Bündnis aus autonomen Aktivisten, Öko-Saft-Produzenten und Fernseh-Promis“ organisiert. Die Agentur-Chefin diffamierte die missliebige Konkurrenz als „linksradikal“ und „Steinewerfer“. Einige Unterstützer des alternativen Literaturfestivals wurden zu ihren Chefs vorgeladen, weil der Gatte der PR-Chefin Verleumdungs-Mails an deren Arbeitgeber geschickt hatte.
Diese Entgleisungen sorgten ihrerseits für Schlagzeilen, der Atomkonzern Vattenfall geriet in die Defensive und distanzierte sich öffentlich von dem aggressiven Vorgehen. Im Widerspruch zu diesem Lippenbekenntnis steht ein Vorfall im November 2012 in den Hamburger Bücherhallen: eine 5-köpfige Vattenfall-Delegation – darunter Vorstandsmitglieder – sei unangekündigt in der Zentralbibliothek aufgeschlagen und habe von der Direktorin unverhohlen verlangt, die Unterstützung für ‚Lesen ohne Atomstrom‘ zu beenden. Nachdem die Bibliotheksdirektorin die aufdringlichen Anzugträger freundlich aber bestimmt vor die Tür gesetzt hatte, ließ Vattenfall seine politischen Kontakte spielen und versuchte über den Hamburger Senat, Druck auszuüben. Der Publizist und Grimme-Preisträger Roger Willemsen erklärte: „Was hier passiert, habe ich so noch nicht erlebt. Vattenfall setzt uns Mitwirkende von ,Lesen ohne Atomstrom‘, die Verlage und Firmen unter Druck, um unter falschen Vorgaben Absagen zu erzwingen.“

Bei Vattenfall lagen die Nervenkabel blank, bis hoch in die Leitungsebene
Abgesandte des Stromriesen rannten Medienhäusern und Verlagen die Türen ein, um zu klären: wer Anzeigen von ‚Lesen ohne Atomstrom‘ schaltet, bekäme von Vattenfall keine Anzeigen mehr. Bald hatten PR-Agentur und Stromkonzern das Image in Grund und Boden gerockt und in der Hansestadt wurden auch Menschen rebellisch, von denen man nicht erwartet hatte, dass sie sich gegen den Platzhirsch stellen. 2013 war es dann soweit: die Vattenfall-Lesetage wurden eingestampft. Der selbstgemachte Image-Schaden war durch kein Geld der Welt mehr zu reparieren.

David besiegt Goliath
Das Lesefestival der Zivilgesellschaft, bei dem sich Jahr für Jahr alle Beteiligten ehrenamtlich und als glühende Überzeugungstäter:innen engagieren, hat das teure Greenwash-Spektakel überlebt. Seit 13 Jahren ist ‚Lesen ohne Atomstrom‘ „Kulturversorger der Metropolregion Hamburg“, so das Hamburger Abendblatt, wo „immer wieder Superstar-Pop auf Nobelpreis-Noblesse trifft“. Ohne Sponsoren, ohne Parteien. Für ein anderes Kulturverständnis, für das Ende des nuklearen Zeitalters.
Inzwischen haben mehr als 43.000 Menschen 364 namhafte Künstler:innen live in 97 Veranstaltungen gesehen. Zur Feier des 1. Jahrestags des deutschen Atomaustiegs präsentierte ein Star-Ensemble am 15. April 2024 sein neues Hörbuch als konzertante Lesung. Barbara Auer, Johanna Christine Gehlen, Anna Thalbach, Johann von Bülow und Walter Sittler sowie Zeitzeug:innen verschiedener Generationen würdigten die vielen, die auf sehr unterschiedliche Weise, vor und hinter den großen Bühnen, zum Erfolg des Atomausstiegs beigetragen haben. Mit musikalischen Intermezzi von Abi Wallenstein und Günther Brackmann sowie mit erinnerungsweckenden Foto- und Video-Projektionen wurde der historische Streifzug durch die kunterbunte Geschichte der Anti-Atom-Bewegung zu einem Fest für alle Sinne.
Ein Fest für eine Bewegung, die das nukleare AUS! mit allen Mitteln ihrer taktisch gewollten Vielfältigkeit über ein halbes Jahrhundert erkämpft hat. Ein Kulturfest, das auch in Süddeutschland, nahe der Schweizer Grenze Mut machen kann, jetzt da die Eidgenössischen Atomkonzerne laut über Laufzeitverlängerungen für ihre senilen, grenznahen AKW nachdenken.

„Ziviler Ungehorsam schaltet Deutschlands Atomkraft AUS!“ Nach dem Bühnenevent ist das neue Hörbuch online abrufbar und als CD bestellbar unter: lesen-ohne-atomstrom.de – kostenlos. Einen Auszug aus der Buchvorlage hat der Kultur Joker hier veröffentlicht: www.kulturjoker.de/selbstwirksamkeit-ein-gelungener-coup-macht-lust-auf-mehr/

Bildquellen

  • Lesen ohne Atomstrom: © Andreas Conradt