Lavendel, Folklore und Mittelmeer
Ein zwiespältiges Urteil über die Europäische Kulturhauptstadt 2013 Marseille
Walter Benjamin, einst Student an der Freiburger Universität, der Marseille seit 1926 wiederholt besuchte, war fasziniert und irritiert zugleich angesichts der großen provençalischen Hafenstadt. An Hugo von Hofmannsthal schrieb er, dass es schwieriger sei, Marseille „einen Satz abzuringen, als aus Rom ein ganzes Buch herauszuholen“.
Die Künstlerin Heidrun Reymann, 2012 aus dem Ruhrgebiet nach Freiburg übergesiedelt, seitdem aktives Mitglied der Bürgerinitiative Pro Kulturhauptstadt Freiburg, sandte uns einen im Urteil zwiespältigen Bericht aus Marseille (gemeinsam mit dem slowakischen Košice im Jahr 2013 Europäische Kulturhauptstadt). Dorthin war H.R.REY – so ihr Künstlername – vor wenigen Wochen gereist. Gern drucken wir die Schilderung (in Auszügen) ab. mf
Mein erster und bis dahin letzter Besuch der Stadt Marseille lag mehr als 40 Jahre zurück. Eine Stadt im Umbruch! Libanesen, Armenier, Griechen, Türken, Kabylen hofften auf Wohnraum, und immer noch die „Pieds-noir“ knapp zehn Jahre nach dem Ende des Algerienkriegs. Wo keine neuen Hochhäuser standen, wurde alte Bausubstanz abgerissen, der Zugang zum Mittelmeer komplett verbaut. Die Stadt wirkte trotz sommerlicher Hitze düster, bedrohlich. Diese Erfahrung genügte, um fortan in den sommerlichen Ferienwochen nurmehr das schöne Hinterland der Provence zu erkunden. Und die Regionen blühten sichtlich auf, vor allem, weil durch die Verwaltungsreform 1981 die Autonomie der Departements gestärkt wurde: Aix-en-Provence, Arles, Salon-de-Provence…, jede Stadt entwickelte sich zu einer Sommerkönigin.
Marseille dagegen konnte keinen Profit aus der Kolonisation schlagen, rutschte immer tiefer in den Abgrund, Arbeitsplätze brachen weg wie bei Hafenstädten weltweit: Korruption, Attentate, Bandenkriminalität, Abwanderung von 10.000 Bürgern zwischen 1980 und 1995, eine Stadt manchmal am Rande der Unregierbarkeit, aber mit einer stolzen 2600 Jahre alten Geschichte. Seit 1989 forderten Urbanisten, Marseille wieder mit dem Meer, dem es alles verdankt, zu versöhnen. Sieben Jahre später dann endlich beginnt das Umbauprojekt „Euroméditerranée“ mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren. Im September 2008 erhält Marseille mit der Provence den begehrten Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2013.
Die Animositäten zwischen den strahlenden Provencestädten Aix, Arles, Salon auf der einen Seite und Marseille zeigten sich gleich bei der Eröffnungsfeier im Januar 2013. Die Gemengelage kam mir als Mensch aus dem Ruhrgebiet nur allzu bekannt vor, wo doch 53 Revierstädte dem „Bannerträger“ Essen für den Titel „Ruhr 2010“ den Vortritt lassen mussten. Aber hier teilten alle Kommunen die Erkenntnis, sich letztendlich doch sehr zu gleichen und das Gefühl zu haben, von dem Rest der Welt vernachlässigt zu sein.
Die Frage darf erlaubt sein: Zählt im Kulturhauptstadt-Jahr vorrangig die emblematische Architektur des Stararchitekten, geadelt mit den vom Kunst- und Kulturmarkt abgesegneten großen Namen? Das „MuCEM“ in Marseille, im Juni eröffnet, steht für dieses Denken. Der außerordentliche Bau des provençalischen Stars Rudy Ricciotti – ein 25 m hoher Quader mit einer filigranen Netzhülle aus ultrafestem Beton – wird „das Gesicht“ dieses Kulturhauptstadtjahres 2013, das meistfotografierte Objekt.
So eindrucksvoll das Wechselspiel von Durchblicken und Spiegelungen und die Einbettung des Gebäudes in die Umgebung daherkommt, so banal bleibt dessen Bespielung als „Musée des Civilisations de l`Europe et de la Méditerranée“. Hier scheint schlicht der Inhalt des 2005 aufgelösten „Musée National des Arts et Traditions Populaires“ eingeräumt worden zu sein. Was müsste z. B. ein maronitischer Christ aus dem Libanon denken, wenn ihm so überbordend die Glorie Frankreichs, seine Folklore, Sitten und Gebräuche vorgeführt würden?
Nur einen Steinwurf entfernt steht der letzte Hangar des alten Hafens, der architektonisch ebenso innovativ zum Ausstellungs- und Kongressgebäude „J1“ umgestaltet wurde. Da er keine eigene Sammlung besitzt, gibt es Gastproduktionen, zur Zeit von einem Künstlerkollektiv, das den Blick bis ins Jahr 2031 wirft. Allein, ‚außen vor‘ hat man sich als Besucher gefühlt, weil nur durchs Fenster in den Schauraum die Einsicht möglich war. Dafür tröstete das Panorama auf die Weiten des Mittelmeeres.
Auch der festlich mit 41 Fahnenrollen geschmückte „Pavillon M“ hinter dem imposanten Rathaus am Quai öffnete sich nur nach langer Wartezeit, zunächst für ausgewählte Repräsentanten, dann erst für Besucher. Zweiter Versuch beim Infocenter des „Pavillon M“: 44 Arbeiten, offenbar von Konsulatsangestellten gänzlich unzureichend ausgewählt, zuweilen falsch benannt und von unterschiedlichster Qualität lösten Wechselgefühle aus. Die schleifengeschmückten Empfangsdamen lächelten dafür hinreißend. Hier hätten auch die sachkundigsten Volunteers von Ruhr 2010 nichts ausrichten können.
Die zum Kreativzentrum umgebaute ehemalige Tabakfabrik „La Friche Belle de Mai“ (die Brache) war mit dem Bus zu erreichen und bot abends eine arabische Open-Air-Kino-Veranstaltung. Bei dem Verlassen des Pavillons lenkten uns Djembés und westafrikanische Tänzer zur Treppe hinter dem Rathausgebäude – man beging 45 Jahre Jumelage mit Dakar. Dicht daneben entstieg einer Destille intensivstes Lavandin. Ja richtig, man feiert ja auch Provence, Marseille 2013. Wie war das noch mit den drei Kapiteln, die die Organisatoren für dieses Jahr aufschlagen wollten, 1. accueille de monde – Weltbürgertum, 2. MP à ciel ouvert – Kunst und Natur, 3. MP aux milles visages – Kunst des Zusammenlebens. Die Kapitel sollten sich nacheinander entwickeln. Hier geschah nun alles gleichzeitig. Und dabei wären wir schon zufrieden gewesen mit nur einem Motto: Marseille – Méditerranée.
H.R.REY