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Kritisches Geschichtsbewusstsein stärken: Im Gespräch mit Julia Wolrab, Leiterin Dokumentationszentrum Nationalsozialismus (DZNS) Freiburg

Langjährige Kämpfe gingen voraus. Nun wird heute, am 21. März 2025 das „Dokumentationszentrum Nationalsozialismus der Städtischen Museen Freiburg“ (DZNS) eröffnet. Auf rund 800 Quadratmetern entsteht eine Einrichtung, die sich mit der NS-Diktatur befasst, fokussiert auf regionale Ausprägungen; thematisiert werden auch die Demokratisierung nach 1945 sowie die gescheiterte Weimarer Republik. Neben einer informativen Dauerausstellung besteht ein zentraler Gedenkraum für die Verfolgten des NS-Regimes. Zudem sind Bildungsangebote geplant, die einen offenen Dialog mit der Bürgerschaft fördern wollen. Zur Gründung der Einrichtung haben viele Personen und Institutionen beigetragen und immer neuen Zündstoff geliefert. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat die Historikerin Julia Wolrab, Leiterin des DZNS, zu dieser neuen Institution befragt.

Kultur Joker: Wie kann man sich, ausgehend von den historischen Spuren am Gebäude des DZNS, den Inhalten des Dokumentationszentrums nähern? Was sagen uns der Luftschutzkeller im 1936 erbauten Verkehrsamt sowie ein völkisch kontaminiertes Auftragsgemälde?

Julia Wolrab: Die Annäherung an die Geschichte des Nationalsozialismus in Freiburg und der Region erfolgt zum einen über das historische Gebäude aus dem Jahr 1936, das als städtisches Verkehrsamt geplant und realisiert wurde. Hier waren neben dem städtischen Reise- und Informationsbüro Firmen und Institutionen untergebracht, die mit dem Thema Reisen und Tourismus in Verbindung standen. Freiburg wurde als „Schwarzwald-Metropole“ von der nationalsozialistischen Führung propagiert und ideologisch instrumentalisiert. Das Perfide: Im Untergeschoss ist zeitgleich ein Luftschutzkeller für 170 Personen geplant und realisiert worden, bereits über drei Jahre vor Kriegsbeginn. Anhand dieses in Teilen noch gut erhaltenen Luftschutzkellers lassen sich auch Aspekte von Ein- und Ausschluss in und aus der „Volksgemeinschaft“ thematisieren. Beispielsweise indem die Frage aufgeworfen wird, wer Zugang zu öffentlichen Luftschutzanlagen hatte. Dieser war Jüdinnen und Juden in aller Regel verwehrt. Spuren aus der NS-Zeit sind auch an anderen Stellen im Gebäude erhalten. Die wohl größte ist das Gemälde des Künstlers Theodor Kammerer aus dem Jahr 1939. Als Auftragsarbeit der Stadt Freiburg zeigt es Menschen, die dem „arischen Ideal“ der Nationalsozialist*innen entsprachen, in einem fiktiv-paradiesischen Schwarzwaldsetting. Im Hinblick auf die Geschlechterrollen sowie das uniforme Menschenbild des NS lassen sich im Gemälde viele Merkmale erkennen. Die Dauerausstellung selbst, die alle drei Geschosse des Hauses umfasst, ist dann chronologisch aufgebaut und nähert sich über spezifische Orte, aber auch über Biographien und konkrete Ereignisse der Geschichte der Diktatur.

Kultur Joker: Im Innenhof des Hauses ist ein Gedenkraum mit einem begehbaren Kubus eingerichtet worden, auf dem die Namen von über tausend NS-Verfolgten verschiedener Opfer-Gruppen stehen. Sind deren Biographien dokumentiert?

Julia Wolrab: Dank der wegweisenden Recherchearbeit ehrenamtlicher Engagierter sind bereits zahlreiche Biographien verfolgter Menschen aus Freiburg, oder mit Freiburg-Bezug, in den letzten Jahren und Jahrzehnten, dokumentiert worden. Mit Unterstützung des Freiburger Stadtarchivs und wissenschaftlicher Mitarbeitenden, u.a. der Universität Freiburg, haben wir die Biographien des Gedenkraums in den letzten Jahren systematisch abgeglichen, in eine interne Datenbank überführt und Leerstellen identifiziert. Bis zur Eröffnung werden von den 1048 bislang zusammengetragenen Namen verfolgter und ermordeter Freiburger*innen rund 750 öffentlich zugänglich sein. Die Arbeit daran bleibt jedoch auch in den kommenden Jahren eine zentrale Aufgabe des DZNS. Es geht darum, möglichst viele Namen zu identifizieren, Quellen- und Bildmaterial auszuwerten und, sofern möglich, Kontakt mit den Nachkommen aufzunehmen und die Biographien so weiter zu erschließen. Im Rahmen eines digitalen Gedenkbuchs, dessen Planung erst beginnt, sollen auch die Biographien der Menschen zugänglich gemacht werden, die die Verfolgung überlebt haben, die durch Flucht, im Versteck oder durch Rettung dem Terror der NS-Verfolgung entkommen sind.

Auf rund 800 Quadratmetern eröffnet das Dokumentationszentrum Nationalsozialismus @ Achim Kaeflein

Kultur Joker: Welche Aspekte waren Ihnen bei der Einrichtung des DZNS besonders wichtig, welchen Stellenwert haben Hör- und Bildstationen?

Julia Wolrab: Ich bin der Meinung, dass Geschichte nur dann Zugang zu Menschen findet, wenn konkrete Bezüge zum eigenen Leben, zum eigenen Ort, zu eigenen Gedanken hergestellt werden können. Bei der Ausstellungsgestaltung war es meinem Team und mir deshalb wichtig, konkrete Orte zu benennen und auch das Nebeneinander von Gewalt und Normalität in Freiburg und Umgebung abzubilden. Dies führt zwangsweise zur Frage zurück, wie die Etablierung der Diktatur und die Verbrechen – auch in Freiburg – möglich gewesen sind. Das gleichgültige Wegsehen, das „Fassade-wahren“, all das erscheint rückblickend ähnlich zerstörerisch wie die Beteiligung an den Verbrechen. Die Ausstellung ist für Besuchende herausfordernd, auch da man sich das historische Gebäude buchstäblich erschließen muss. Die Ausstellung ist im Hinblick auf die Textlängen so reduziert wie möglich. Gleichzeitig bieten Medienstationen und die App zur Dauerausstellung visuelle und auditive Vertiefungsmöglichkeiten.

Kultur Joker: Die Dauerausstellung behandelt den komplexen Zeitraum von 1918 bis in die Gegenwart, im Foyer die Weimarer Republik, im UG die Jahre 1933 bis 1942 und im OG die letzten drei Kriegsjahre. Zudem wird die Nachkriegsentwicklung mit ihren politischen und juristischen Versäumnissen behandelt?

Julia Wolrab: Es ist richtig, dass sich die Ausstellung zwischen 1918 und der Gegenwart über drei Stockwerke erstreckt. Im Foyer, dem Eingangsbereich werden Entwicklungen der Weimarer Republik in Freiburg verdeutlicht und erkennbar, dass der Weg in den Nationalsozialismus alles andere als klar vorgezeichnet oder gar alternativlos gewesen ist. Gerade das starke Zentrum hat einen Erfolg der NSDAP in Freiburg länger als in anderen Orten verhindert. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verfolgung politischer Gegner*innen im Frühjahr 1933 in Freiburg vergleichsweise schnell und mit Brutalität vorangetrieben wurde. Das Jahr 1933 und der Beginn der Diktatur werden noch im Foyer behandelt, bevor sich die Dauerausstellung dann im UG mit den Jahren 1933-1938 sowie 1938-1942 fortsetzt. Im OG werden die letzten drei Kriegsjahre und die Nachkriegsgeschichte fokussiert.

Kultur Joker: Momentan gibt es noch keine schriftliche Grundlageninformation, etwa einen wissenschaftlichen Katalog oder Broschüren, die – vor und nach Ortsbesuch – von den Interessierten konsultiert werden können. Doch allein vor Ort verarbeiten zu wollen, was auf 800 qm² und drei Etagen gezeigt wird, kann das nicht zu Frustration und Ablehnung führen?

Julia Wolrab: Dass wir zur Eröffnung noch keinen Katalog und auch keinen Begleitband haben, empfinde ich ebenfalls als Desiderat. Angesichts unserer sehr angespannten Personalsituation und des zwar ungemein engagierten, aber sehr kleinen Teams war die Arbeit an einem Katalog bislang leider nicht möglich. Dieser ist jedoch als Projekt nach der Eröffnung und der Etablierung des Regelbetriebs geplant. Bis dahin stehen den Besucher*innen zusätzlich die vertiefenden Hörstücke und Texte in der begleitenden App zur Verfügung, die auch von zuhause oder unterwegs genutzt werden kann.

Kultur Joker: Welcher Platz wird dem Nachlass von Gertrud Luckner eingeräumt, der Freiburger Ehrenbürgerin, die Juden zur Flucht verhalf und deshalb im KZ Ravensbrück interniert war?

Julia Wolrab: Es ist eine große Bereicherung für das DZNS, dass die Gertrud-Luckner-Bibliothek, zu der auch ein Teil ihres Nachlasses zählt, von der Luckner-Gewerbeschule in das Dokumentationszentrum umziehen wird. In einer kleinen Präsenzbibliothek und einem angrenzenden Leseraum können Besucher*innen sich Bücher, darunter Sekundärliteratur zur Geschichte des Holocaust sowie zum christlich-jüdischen Dialog ausleihen. Die Bibliothek wurde 1990 im Beisein Gertrud Luckners gegründet und dann viele Jahre von Franz Brockmeyer ehrenamtlich weiter ausgebaut und betreut. Die Geschichte und der Einsatz Gertrud Luckners wird selbstverständlich auch in der Dauerausstellung thematisiert.

Kultur Joker: Was die Fortbildung von Multiplikatoren anbelangt, ist noch keine schriftliche Grundlage vorhanden. Aus welcher Perspektive gehen Sie die Thematik an, was bedeutet für Sie heute Bildungs- und Vermittlungsarbeit zum Nationalsozialismus?

Julia Wolrab: Die Bildungs- und Vermittlungsarbeit ist ein wichtiger Grundpfeiler der Arbeit des DZNS. Gleichzeitig bringt sie viele Herausforderungen mit sich. Grundlegender Maßstab ist der „Beutelsbacher Konsens“, der für die politische, weitgehend auch die historisch-politische Bildung gilt. Dabei stehen die Ansprüche der politischen Bildung, beispielsweise eine eigene Urteilskraft auszubilden, im Spannungsfeld zur normiert-normierenden Erinnerungskultur. Denn stellenweise wird in der Gedenkstättenpädagogik noch immer der „moralische Zeigefinger“ eingesetzt, z.B. wenn nach antisemitischen Vorfällen der Besuch von Gedenkstätten als Sanktionsmaßnahme dient. Diese Praxis lädt in den wenigsten Fällen zur kritischen Auseinandersetzung ein oder ermöglicht historisches Lernen. Vor allem jungen Menschen sowie Menschen mit Migrationserfahrung wird häufig abverlangt, sich in Geschichtsbilder und darauf bauende Identitätskonstruktionen einzuordnen, worauf Volkhard Knigge und Sybille Steinbacher 2019 in ihrem Band „Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? Die Erfahrung des Nationalsozialismus und historisch-politisches Lernen in der (Post-) Migrationsgesellschaft“ hingewiesen haben. Dabei liegt das Potenzial der historisch-politischen Bildungsarbeit gerade darin, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu stärken und Handlungsräume für die aktive Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft aufzuzeigen. Im künftigen DZNS werden Besuche von Schüler*innen i. d. R. in verpflichtender Weise stattfinden. Spielräume wollen wir hier jedoch stärken, z.B. indem wir Lehrkräfte durch Fortbildungen für die individuellen und emotionalen Grenzen der Auseinandersetzung sensibilisieren. Unserer Erfahrung nach steigt die Bereitschaft für aktive Teilnahme insbesondere durch das Zugestehen von Freiwilligkeit.

Kultur Joker: Sie bieten auch Stadtführung zur NS-Geschichte, zu welchen Stationen führen Sie die Interessierten? Beziehen Sie auch Orte der Zwangsarbeit in Freiburg ein?

Julia Wolrab: Stadtführungen haben wir in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Themen sowie unterschiedlichen Anlässen angeboten und auch Orte von Zwangsarbeit integriert. Mit der Neueröffnung, werden wir den Fokus auf die Ausstellung richten. Für Stadtführungen gibt es bereits ein großes Angebot, je nach Entwicklung der Nachfrage können wir uns aber vorstellen, auch die Verortung im Stadtraum durch Bildungsangebote fortzuführen. Grundsätzlich unterscheiden sich alle Führungen, seien sie in der Ausstellung oder außerhalb, da die Personen, die sie machen, selbstständig tätig und verantwortlich für den Inhalt sind. Gerade im Rahmen von Kooperationsveranstaltungen spielten und spielen Führungen eine wichtige Rolle, um bestimmte Themen in der Stadt sichtbar(er) zu machen. Im vergangenen Jahr war es uns wichtig, die Zerstörung Freiburgs im November 1944 zu thematisieren, aber nicht losgelöst von den Entwicklungen, die ab 1933 und bis 1945 stattgefunden haben. Zu jüdischer Geschichte bieten wir seit einigen Wochen eine digitale Selbsterkundungstour an. Mit der App „FreiBuddy“ können sich Interessierte durch den Dialog mit teils fiktiven Charakteren Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in Freiburg erschließen.

Kultur Joker: Wir hoffen auf produktive Resonanz in der Freiburger Zivilgesellschaft und bedanken uns für Ihre Auskünfte.

Bildquellen

  • Auf rund 800 Quadratmetern eröffnet das Dokumentationszentrum Nationalsozialismus: @ Achim Kaeflein
  • Julia Wolrab: @ Patrick Seeger/Stadt Freiburg