„Klima vor Acht“ oder „Climate Silence“?
„Boah, diese Frisur! Und die Klamotten! Unfassbar, diese Farben!“ Sicher, darüber kann man sich aufregen, wenn Börse-vor-Acht-Moderatorin Anja Kohl zur Primetime die Welt der Aktien in die gute Stube bringt. Man kann aber auch kritisieren, dass dieses Nischenthema – nur 6 % aller Deutschen besitzen überhaupt Aktien – uns übertrieben prominent und häufig serviert wird und dass das Wort „Klima“ bestenfalls als „Konsumklima“ Erwähnung findet. Das mag für diejenigen angemessen sein, die noch nicht wissen, dass die Klimakrise unsere Existenz auf der Erde bedroht. Für Wissenschaftler*innen, die die Dramatik der Lage genau kennen, ist dieses Missverhältnis nicht nachvollziehbar.
Genau da beißt dich die Katze in den Schwanz, hier geht es schlecht informierten Journalist*innen wie allen anderen, die nicht merken was da im Argen liegt. Die Klimaforscherin Prof. Katharine Hayhoe hat das Medienversagen in einem bemerkenswerten Ted-Talk auf den Punkt gebracht: Mehr als ¾ aller Amerikaner gaben in einer Umfrage der Yale Universität an, über die Medien nicht über den Klimawandel informiert zu werden. Wer darüber nicht Bescheid weiß, kann sich der Illusion hingeben, es könnte alles irgendwie noch gut gehen. Zugegeben, es ist ja wirklich kaum vorstellbar, dass wir in einigen Jahren nicht mehr jeden Morgen duschen können, wenn das Wasser nicht mehr reicht. Oder dass wir uns in einigen Jahren nach Sommern wie den letzten dreien sehnen, weil da die Hitze doch noch irgendwie auszuhalten war. Viele wissen einfach nicht, dass wir auf planetare Verhältnisse zu rennen, wo nur noch auf wenigen Breitengraden Landwirtschaft und Nahrungsmittel–Produktion möglich ist, die also überhaupt für Menschen bewohnbar sind.
Hatten wir noch nicht. Kann‘s also auch nicht geben. So war‘s Anfang des Jahres auch in Sachen Corona: “Du glaubst doch nicht im Ernst, dass hier das öffentliche Leben eingeschränkt wird!“ Doch. Auch Dinge, die wir selbst noch nie erlebt haben, gibt es. Doch woher soll man Dinge wissen, über die nicht angemessen berichtet wird? Was im Krisenfall möglich wird, haben wir bei der Corona-Medienberichterstattung erlebt. Plötzlich klappt das mit dem Bildungsauftrag und ganz viele Menschen wissen, was Aerosole sind und wie damit Viren übertragen werden.
Climate-Silence nennt sich das Phänomen, welches das ohrenbetäubende Schweigen im Blätterwald charakterisiert. Nun entstand eine Bewegung, die genau dort ansetzen will. KlimaVor8 nennt sich die Initiative, die unsere Sinne dafür schärfen will, dass es nicht nur Montags bis Freitags vor den 20.00 Uhr-Nachrichten in der ARD, sondern auch auf anderen viel gesehenen Programmplätzen Börsennachrichten ohne Ende gibt, währen das Klima keinen festen Sendeplatz hat. Das Medienversagen geht sogar so weit, dass über diverse Kanäle dramatische Berichte über die Kalifornischen Waldbrände flackern, in denen das Wort „Klima“ nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Sendezeit gibt’s für Menschen, die sich um ihre Katzen sorgen oder für Trump, der ohne journalistische Einordnung von unaufgeräumten Wäldern und „explodierenden Bäumen“ plappern darf. Weil die ARD der Ansicht ist, dass daran nichts geändert werden soll, hat die KlimaVor8-Initiative beschlossen, die erste Film-Staffel selbst zu produzieren. Das Crowdfunding für die Produktion warf selbst die glühendsten Optimisten vom Hocker. In weniger als 4 Stunden waren 20.000 € auf dem Spendenkonto.
Liebe Leser*innen, ab jetzt werden Sie nicht mehr weg-denken können. Ab sofort wird es Ihnen auffallen, wenn Sie mit geschärften Sinnen fernsehen. Womöglich stoppen jetzt sogar einige von Ihnen die Sende-Dauer, um nachzuhalten, wieviel Nachrichten-Zeit für welche Themen vergeben wird. Minutenlang jauchzende Filmsternchen, die überwältigt sind vom XY-Award, während in Sibirien, Brasilien und im südlichen Afrika die Klimabrände toben. Selbst hartgesottene Kicker*innen beißen mitunter in die Fernbedienung, wenn endlos kostbare Nachrichten-Sendeminuten dem Männerfußball gewidmet werden, während ein Hurrikan auf eine Küste knallt oder Starkregen ein Sandsäcke-umringtes AKW bedroht.
Ähnliche Experimente lassen sich auch bei der Zeitungslektüre machen: Eine x-beliebige Tageszeitung als pdf aus dem Netz gezogen lieferte folgendes Schnelltest-Ergebnis in der 94-seitigen Samstags-Ausgabe: 8 Mal kam das Wort „Klima“ vor. Darunter wertlose Treffer wie „vollklimatisiert und komfortabel“ im Reiseteil über ein Kreuzfahrtschiff sowie „Klimaanlagen, Steckdosen und WLAN“ in Zügen. Es scheint als wüssten nur die wenigsten Journalist*innen, dass „der Mensch ein enormes geophysisches Experiment durchführt“. Als wüssten sie nicht, dass genau diese Bewertung zum menschengemachten Klimawandel aus der Feder der wissenschaftlichen Berater des US-Präsidenten stammt. Und schon gar nicht, dass es sich dabei um Präsident Lyndon B. Johnson handelt, der vor 55 Jahren den Regierungsbericht erhielt, welcher eindringlich vor der Klimakatastrophe warnte.
Ein halbes Jahrhundert später führte eine Schülerin ein Zeitungsexperiment durch. Sie wollte wissen was passiert, wenn eine große Zeitung ankündigt, „das Klima ins Zentrum der Berichterstattung zu stellen, so dass es die gesamte Redaktion durchdrang“. Greta Thunberg verfolgte die Berichterstattung fünf Wochen lang am Stück. Das Ergebnis war nicht besonders beeindruckend: Shopping: 22 %, Flugreisen: 11 %, Autos: 7 %, Klimakrise: 0,7 %. Vor dieser vollmundigen Ankündigung lag die Klima-und Umweltberichterstattung in mehreren großen Tageszeitungen übrigens im selben Bereich. Da drängt sich die Frage auf, welchen Stellenwert das Klima wohl in deutschen Medien hat.
Erst kürzlich ist bei der Journalistin Sara Schurmann der Groschen gefallen. Sie hat in einemviel beachteten offenen Briefihre Kolleg*innen aufgerufen, „die Klimakrise endlich in ihrem ganzen Ausmaß anzuerkennen – und das eigene Handeln danach auszurichten: Sie sollten bei jeder Berichterstattung die Auswirkungen auf das Klima mitdenken.“ Mehr als 50 Medienmacher*innen unterstützen ihren Aufruf. Die Autorin bekam erfreulich freundliche Reaktionen, als sie den Brief in bisher schlecht „klimatisierte“ Filterblasen weiterreichte.
Bildquellen
- Climate Change: Promo