Kirchliche Chorgesänge im Zeitalter von Facebook und Co?
Im Gespräch: Im Gespräch: Martina van Lengerich, Leiterin der Mädchenkantorei am Freiburger Münster vor ihrer China-Tour
An der Freiburger Domsingschule ist das Reisefieber ausgebrochen: Vom 23. August bis 11. September 2016 ist die Mädchenkantorei in China unterwegs. Wie es dazu kam und was die Mädchen dort erwartet sowie über Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in den verschiedenen Chorkulturen – darüber sprach Friederike Zimmermann mit der Leiterin der Mädchenkantorei Domkantorin Martina van Lengerich.
Kultur Joker: Frau van Lengerich, die Frage, die sich mir vor allen anderen aufdrängt: Wie schafft man es im schnelllebigen digitalen Zeitalter von Facebook und Co, all die heranwachsenden Mädchen zu kirchlichen Chorgesängen zu motivieren, die aus jugendlicher Sicht bestimmt nicht als so besonders cool gelten?
Martina van Lengerich: Ich glaube, da passiert sehr viel über die Musik an sich, denn das Singen bereitet ja große Freude. Gerade in der Gemeinschaft ist es sehr schön zu erleben, dass beim Proben etwas entsteht. Im Konzertchor singen wir mehrstimmige und anspruchsvolle Werke. Das ist natürlich eine gewisse Herausforderung an die jungen Sängerinnen. Heutzutage kommen sicherlich nicht alle aus religiösen Motiven zu uns, aber umgekehrt merke ich auch immer wieder, dass die religiösen Texte beim Singen durchaus etwas bewirken.
Kultur Joker: Sind diese Kinder denn von Haus aus bereits musikalisch vorgeprägt?
Van Lengerich: Sowohl als auch. Es ist natürlich einfacher, wenn sie eine Basis haben. Wir haben aber den Vorteil, dass wir in der Domsingschule die ganzen Untergruppen – angefangen bei der Musikalischen Früherziehung, also dem Singen mit den ganz Kleinen von null bis drei Jahren – anbieten können. Wenn dann die Bindung ans Haus schon mal da ist, ist es ein ganz natürlicher Gang, dass die Kinder bei uns auch weitermachen.
Kultur Joker: Wie sind die Chöre der Mädchenkantorei organisiert und wie darf man sich Ihre Arbeit dort vorstellen?
Van Lengerich: Wir haben verschiedene Chorgruppen. In der Früherziehung singen die Mädchen noch mit den Jungs zusammen, erst ab dem ersten Schuljahr werden sie dann im Vorchor getrennt. Ab dem zweiten Schuljahr beginnt der Aufbauchor (A-Chor), wo die Mädchen bis zur fünften oder sechsten Klasse bleiben und zweimal wöchentlich proben. Diejenigen, die schon ein bisschen mehr können, singen im A-Stern-Chor und bekommen somit noch eine weitere Probenzeit mit dem Konzertchor zusammen. In diesem singen die Mädchen ab zirka 12 bis 18 Jahren. Mit dem Schulabschluss folgt oft ein natürlicher Schnitt, aber grundsätzlich können sie sogar bis zum Alter von 22 Jahren dabeibleiben.
Kultur Joker: Nun unternimmt die Mädchenkantorei sogar eine Konzertreise nach China. Bieten solche Events auch einen Anreiz für die Jugend, sich dem Chor anzuschließen?
Van Lengerich: Da kommt natürlich vieles zusammen, die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. Aber keine Frage, so eine Reise ist einfach großartig. In der Form machen wir das alle vier Jahre. Zuletzt waren wir in den USA, davor in Kanada – und in Russland sind wir auch schon gewesen.
Kultur Joker: Sind das dann längerfristige Kooperationen mit Rückbesuchen und so weiter?
Van Lengerich: Wir haben durchaus Kontakte, unter anderem durch den kirchlichen Kinder- und Jugendverband Pueri Cantoris. Aber das läuft nicht immer eins zu eins. Manchmal kommen Gastchöre zu uns, wie etwa kürzlich ein lettischer Mädchenchor, den wir in Gastfamilien untergebracht haben. Und umgekehrt waren wir in Madison, der Partnerstadt von Freiburg, auch in Gastfamilien untergebracht, ohne dass es einen Gegenbesuch gegeben hätte.
Kultur Joker: Wie kam es zum Angebot, eine Konzertreise nach China zu unternehmen?
Van Lengerich: Im Chor singt ein chinesisches Mädchen mit, dessen Mutter meinte, sie würde so gerne den Chor in ihre Heimat vermitteln. Sie ist selbst Musikerin und hat bereits verschiedene andere Musiker nach Taiyuan gebracht. Dann haben wir uns gesagt: Wenn wir schon so eine große Reise machen, möchten wir auch ein bisschen mehr vom Land sehen. Und so haben wir dorthin verschiedene Kontakte aufgebaut.
Kultur Joker: Das heißt, Sie werden dort verschiedene Stationen bereisen?
Van Lengerich: Wir sind unter anderem in Peking, da kommen wir auch an. Wir haben inzwischen Kontakt zur deutschen Botschaftsschule und zum dortigen Chor, mit dem wir gemeinsam singen werden. Das hat sich eher zufällig ergeben, denn wir haben momentan das Jahr des chinesisch-deutschen Jugendaustauschs. Dann geben wir ein Konzert in Dongying, von da aus geht es weiter nach Taiyuan und nach Qingdao. Hier gibt es Kontakte zu deutschen Priestern und einem Orgelbauer aus unserer Umgebung, der die Orgel in der dortigen Kathedrale gebaut hat. Das ist natürlich sehr schön, in dieser Kathedrale dürfen wir singen. Danach geht es in die Nähe von Shanghai, nach Taicang. Auch dort gibt es Freiburger Kontakte. Shanghai ist dann der Abschluss für uns. Von dort geht es zurück nach Deutschland.
Kultur Joker: Das ist eine ganze Menge…
Van Lengerich: Ja, wir sind insgesamt zweieinhalb Wochen in China. Das Land ist ja unvorstellbar groß, da haben wir es mit ganz anderen Dimensionen zu tun. Ich war selbst noch nicht in diesem Land und bin sehr gespannt. Über verschiedene Beziehungen haben wir die Möglichkeit bekommen in großen Konzerthäusern aufzutreten, insofern ist diese Reise für uns auch eine große Herausforderung. Natürlich werden wir auch einiges an Sightseeing unternehmen: In Peking werden wir die chinesische Mauer besuchen und wir werden die Stadt Pingyao besichtigen, die wegen ihres ming-zeitlichen Stadtbildes zum Weltkulturerbe zählt. In Shanghai steht der Jinmao-Tower auf dem Programm, dort besuchen wir auch den Jade-Buddha-Tempel und anderes mehr.
Kultur Joker: Wow, das alles klingt wirklich sehr aufregend! Gibt es in China denn eine „Chorkultur“?
Van Lengerich: Ja, die gibt es schon. Die Chinesen haben natürlich ihre eigene Tradition, doch haben sie ein großes Interesse, die europäische Chorkultur kennenzulernen. Man schaut dort sehr auf Europa.
Kultur Joker: Wie auch sonst in der Musik…
Van Lengerich: Genau, man versucht ähnliche Konzepte wie hier zu übernehmen, wie zum Beispiel „Jugend musiziert“. Zur Vorbereitung auf unsere Reise hatten wir übrigens einen Sinologen zu uns eingeladen, Professor Harro von Senger, der früher einmal einen Lehrstuhl in Freiburg hatte. Er hielt für uns einen Vortrag, das war sehr interessant. So haben wir erfahren, dass es auf der anderen Seite in China noch eine ganz andere Notation gibt, die Jianpu-Notation. Hier bestehen die Noten aus Ziffern. Das ist für uns sehr ungewöhnlich, so wie auch die Schriftzeichen anders sind. Natürlich können die Chinesen aber auch unsere Noten lesen.
Kultur Joker: Spiegelt sich speziell in der Chormusik die kulturelle Eigenheit eines Landes wider?
Van Lengerich: Ja, vor allem natürlich durch die Volksliedtradition, die bei uns aber nicht ungebrochen besteht, so wie in anderen Ländern. Inzwischen singt man ja wieder Volkslieder, deshalb haben wir in unser Programm drei Abendlieder aufgenommen, die wir zu einem Stück zusammenfassten. Da das sehr gefragt ist, haben wir unser Programm „Europäische Chormusik“ genannt. Wir singen Stücke von Purcell über Dowland, Händel und anderen. Mit Schubert, Brahms und Mendelssohn geht’s dann in die Romantik, auch zeitgenössische Komponisten sind dabei. Deutschland ist natürlich viel vertreten. Am Schluss singen wir auch zwei chinesische Stücke, die dort sehr bekannt und beliebt sind. Insgesamt sind das in den Konzerthäusern zwei Mal 45 Minuten mit Pause, das ist natürlich schon relativ viel. Doch bietet unser Programm eine schöne Mischung aus weltlicher und geistlicher Musik.
Kultur Joker: Geistliche Musik in China…?
Van Lengerich: In China ist das, was wir haben – nämlich die Tradition der geistlichen Chormusik und die kirchliche Anbindung – natürlich nicht vorhanden. Ein rein geistliches Programm wäre daher in den Konzerthäusern inadäquat gewesen. Trotzdem singen wir auch einige geistliche Stücke, denn sie sind so hochstehend und qualitätsvoll, dass wir sie nicht weglassen wollten. Sie sind Ausdruck unserer Kultur, wie wir sie hier ja auch vorstellen wollen.
Kultur Joker: Ist man mit einem reinen Mädchenchor auf ein bestimmtes Repertoire beschränkt?
Van Lengerich: Klar, wenn man ohne Männerstimmen auskommen muss, ist man natürlich eingeschränkt. Speziell aus früheren Epochen gibt es nicht so viel Originalliteratur für Mädchenchöre. Das fängt im Grunde erst in der Romantik an. Zwar gibt es einzelne Werke, etwa von Palestrina eine Motette für Oberstimmen, die ursprünglich aber für Knaben notiert war. Sonst muss man da schon auf die Suche gehen. Das ist sicherlich auch ein Grund, weshalb wir unseren Schwerpunkt auf die zeitgenössische Musik gelegt haben. Denn heutzutage wird glücklicherweise sehr viel mehr für Frauen- und Mädchenchöre komponiert.
Kultur Joker: Man kann die Stücke also nicht so einfach für Mädchenchöre adaptieren?
Van Lengerich: Es gibt schon immer mehr Übertragungen. Das finde ich aber nicht immer glücklich, weil man ja den originalen Klang im Ohr hat. Dadurch sind die Stücke auf eine gewisse Art besetzt.
Kultur Joker: Der Klang von Mädchenstimmen hat ja fast schon etwas Sphärisches. Würde auch deshalb eine Übertragung nicht unbedingt zu allen Stücken passen?
Van Lengerich: Das würde ich jetzt gar nicht unbedingt so sagen. Wenn man den Unterbau mit Männerstimmen im Chor nicht hat, dann klingt es natürlich gewissermaßen „sphärisch“. Aber die Mädchen können durchaus auch zupackend und kräftig singen. Und sie können sämtliche Charakteristika, wie sie die Stücke erfordern, anbieten.
Kultur Joker: In der öffentlichen Wahrnehmung haben Sie sich als ausgewiesene Kennerin der Literatur für (Mädchen-)Chöre, aber auch als Komponistin ein besonderes Profil erarbeitet, die durchaus auch für musikalisches und generationenübergreifendes Cross-Over offen ist. Komponieren Sie denn viel?
Van Lengerich: Viel kann man so nicht sagen, ich würde gerne mehr machen. Aktuell bearbeite ich Stücke, hin und wieder schreibe ich auch etwas. Ich habe für den Chor eine Messe geschrieben, ein „Jubilate Deo“. Jetzt haben wir mit „Da pacem, Domine“ (Gib uns Frieden, Herr) ein älteres Stück im Programm, das ich speziell für Russland geschrieben habe. Damals sangen wir es anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes auf einem großen Schlachtfeld.
Kultur Joker: Sie sollten eine Welttournee machen… Haben Sie sich auf Mädchenchöre spezialisiert?
Van Lengerich: Ich habe früher selbstverständlich mit allen Chören gearbeitet. Aber in den fast dreizehn Jahren, die ich nun hier bin, ist die Mädchenkantorei meine Hauptaufgabe.
Kultur Joker: Hat denn jeder Chor seine ganz spezielle Klangfarbe, sodass man ihn erkennen kann?
Van Lengerich: Ich glaube schon, denn als Chorleiterin arbeite ich ja am Klang und habe eine genaue Vorstellung, wie dieser sich anhören sollte. Gerade kurz vor der Reise haben wir uns sehr intensiv vorbereitet und viel geprobt. Und so bin ich mit dem Klang unseres Chores sehr zufrieden. Unsere Mädchen haben zusätzlich Stimmbildung und können alle schön singen. Doch versucht man als Chorleiterin auch eine Einheit herzustellen.
Kultur Joker: Das Ganze ist doch eine wesentlich vielseitigere Aufgabe als ich es mir so vorgestellt hatte…
Van Lengerich: (lacht) Ja, das ist mehr als nur Töne proben. Die Arbeit mit den Mädchen und jungen Frauen ist immer sehr spannend. Ich muss sagen, das ist eine tolle Gruppe. Es mag auch sein, dass das mit der geistlichen Musik zusammenhängt. Jedenfalls wäre es ein Wunsch von mir, dass das, was wir machen, auch zurückwirkt. Selbst wenn sich nicht alle als religiös bezeichnen würden, ist der Glaube schon eine gemeinsame Basis, die uns trägt. Und wenn ich sehe, dass auch die Mädchen mit Freude dabei sind, beflügelt mich das.
Kultur Joker: Wie wird sich diese Reise auf Ihre Arbeit auswirken?
Van Lengerich: So eine Reise mit dem gesamten Chor bietet Erfahrungen in allen Bereichen. Auch für die Gemeinschaft ist das sehr wichtig. Für die jüngeren ist es die erste große Reise überhaupt, dadurch entwickeln sie auch Vertrauen und das finde ich sehr schön.
Kultur Joker: Wie wurde diese Reise finanziert?
Van Lengerich: Einen Teil zahlen die Familien und einen Teil gibt die Kirche bzw. das Erzbistum dazu, worüber wir sehr dankbar sind. Einen weiteren Teil bekommen wir über Spenden und Sponsoring. Familien, die sich das sonst nicht leisten könnten, werden zudem durch den Förderverein, die „Freunde der Freiburger Dommusik“, unterstützt.
Kultur Joker: Herzlichen Dank für das Gespräch und viel Spaß und Erfolg in China!